Scarpetta Factor
hundert Jahre lang und zerfielen eines Tages zu Staub.« Beim Sprechen hatte Lucy die Hände auf beiden Tastaturen. Auf den Bildschirmen der Laptops öffneten und schlossen sich Dateien und Links. Alles, um ihre Tante nicht ansehen zu müssen. »Du meintest, die Leute, die bei dir in der Gerichtsmedizin landeten, verkörperten die Metapher für den Tod an sich. Sie litten an allen möglichen Problemen unter der Sonne und machten dennoch weiter, bis zu dem Tag, an dem es vorbei ist. Und das habe vermutlich mit ihrer Schwachstelle zu tun.«
»Ich vermute, Jaime ist deine Schwachstelle«, erwiderte Scarpetta.
»Ich dachte immer, es wäre das Geld«, entgegnete Lucy.
»Hast du ihr nachspioniert? Ist das der Grund, warum du uns die Dinger geschenkt hast?« Scarpetta wies auf Lucys und ihr eigenes BlackBerry auf dem Couchtisch. »Befürchtest du, Jaime könnte dich finanziell ausnutzen? Hast du Angst, dass sie wie deine Mutter ist? Hilf mir, es zu verstehen.«
»Jaime braucht weder mein Geld noch mich.« Lucy beherrschte mühsam ihre Stimme. »Niemand ist mehr so wohlhabend wie vor der Krise. Bei dieser Wirtschaftslage schmilzt das Geld vor deinen Augen dahin wie eine kunstvolle Eisskulptur, deren Herstellung ein Vermögen gekostet hat. Und dennoch löst sie sich einfach in Wasser auf, und man fragt sich, ob es sie je gegeben hat und was die ganze Aufregung sollte. Ich musste auch Verluste hinnehmen.« Sie zögerte, als wage sie kaum, ihren Gedanken auszusprechen. »Es geht nicht um Geld, sondern um eine andere Sache, in die ich hineingeraten bin und die ich missverstanden habe. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Ich habe die Anzeichen falsch gedeutet.«
»Für jemanden, der so gut Gedichte zitieren kann, bist du manchmal ganz schön schwer von Begriff«, antwortete Scarpetta.
Lucy schwieg.
»Was hast du diesmal missverstanden?« Scarpetta wollte Lucy zum Reden bringen.
Doch Lucy weigerte sich. Eine Zeitlang saßen sie wortlos da. Tasten klapperten, als Lucy tippte, während Scarpetta raschelnd in den Ausdrucken auf ihrem Schoß blätterte. Sie überflog weitere Texte aus dem Internet, die Hannah Starr, Carley Crispin und die nachlassende Beliebtheit ihrer Sendung behandelten. Ein Kritiker sprach von Carleys freiem Fall auf der Nielsen-Skala. Außerdem wurden Scarpetta und der Scarpetta-Faktor erwähnt. Ein Blogger schrieb, die einzige unterhaltsame Folge ihrer Sendung, die Carley in dieser Saison zustande gebracht habe, sei die mit dem Gastauftritt von CNNs angesehener forensischer Analystin, der furchtlosen, stahlharten und skalpellscharfen Scarpetta, deren Kommentare den Nagel stets auf den Kopf träfen. »Kay Scarpetta dringt mit ihren schlagfertigen Bemerkungen zum Kern des Problems vor und ist eine harte Konkurrenz – vielleicht zu hart – für die oberflächliche, aufgeblasene Carley Crispin.« Scarpetta stand auf.
»Erinnerst du dich an den Besuch in Windsor Farms, als du böse auf mich warst und deshalb meine Festplatte formatiert hast?«, fragte sie ihre Nichte. »Damals warst du, glaube ich, zehn und hattest etwas, das ich gesagt oder getan hatte, falsch gedeutet oder missverstanden und dann, um es milde auszudrücken, überreagiert. Formatierst du jetzt deine Beziehung mit Jaime, bis alles gelöscht ist, ohne zuvor mit ihr darüber zu sprechen, ob es überhaupt einen Grund dafür gibt?«
Sie öffnete ihre Tatorttasche und nahm ein frisches Paar Handschuhe heraus. Dann umrundete sie Warner Agees zerwühltes, mit Kleidungsstücken übersätes Bett und begann, die Schubladen der Kommode mit der gewölbten Front zu durchsuchen.
»Was hat Jaime angestellt, das du möglicherweise missverstanden hast?«, ergriff sie wieder das Wort.
Weitere Herrenkleidung, nichts davon zusammengelegt. Boxershorts, Unterhemden, Socken, Pyjamas, kleine Samtschatullen mit Manschettenknöpfen, einige davon antik, jedoch nicht wertvoll. Die nächste Schublade enthielt Sweatshirts und T-Shirts mit Logos: FBI-Akademie, verschiedene Außenstellen des FBI, Geiselbefreiungskommando, Nationale Eingreiftruppe, alles alt und ausgewaschen. Es waren die Embleme von Organisationen, denen Agee so gern angehört hätte. Scarpetta brauchte Warner Agee nicht zu kennen, um zu wissen, wie verzweifelt er sich nach Anerkennung gesehnt und sich an die Überzeugung geklammert hatte, dass das Leben ungerecht war.
»Was könntest du falsch verstanden haben?«, hakte sie noch einmal nach.
»Es ist nicht leicht, darüber zu reden.«
»Versuch es
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