Scarpetta Factor
nicht zierlich. Sie war zwar schlank, aber groß, ungefähr eins zweiundsiebzig, richtig? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie gestern Abend gegen sieben das Haus betreten und es gegen acht wieder verlassen hat. Deiner Ansicht nach ist sie seit Dienstag tot. Und jetzt bestätigt dieses Caligula-Ding offenbar deine Vermutung. Sie hat drei Tage lang ihren Fragebogen nicht ausgefüllt.«
»Wenn es stimmt, dass sich jemand verkleidet hat, um die Überwachungskameras auszutricksen«, merkte Lucy an, »muss derjenige ihren Mantel oder einen nahezu identischen und außerdem ihren Wohnungsschlüssel gehabt haben.«
»Sie war seit mindestens sechsunddreißig Stunden tot«, stellte Scarpetta fest. »Wenn sie bei ihrer Ermordung den Wohnungsschlüssel in der Tasche hatte und der Täter ihre Adresse kannte, war es kein Problem für ihn, sich in die Wohnung zu schleichen, alles Mögliche von dort zu entfernen und den Schlüssel zurück in ihre Tasche zu stecken, bevor er die Leiche im Park entsorgt hat. Die Person könnte auch ihren Mantel gehabt haben. Vielleicht hatte sie ihn ja an, als sie gestern aus dem Haus ging. Das würde erklären, warum sie nicht warm genug angezogen war, als ihre Leiche gefunden wurde. Einige Kleidungsstücke könnten gefehlt haben.«
»Das hört sich nach viel Arbeit und einem hohen Risiko an«, meinte Lucy. »Der Mörder hat seine Tat offenbar nicht sehr gut geplant. Es macht fast den Eindruck, als hätte er nicht davor, sondern erst anschließend gründlich nachgedacht. Ob wir es mit einer Tat im Affekt zu tun haben und der Mörder aus ihrem Bekanntenkreis stammt?«
»Falls sie im Kontakt mit ihm stand, könnte das der Grund sein, warum Laptop und Telefon verschwunden sind.« Marino ließ sich nicht von seinem Thema abbringen. »SMS auf dem Telefon. Wenn du es endlich schaffst, dir ihre E-Mails anzuschauen, wirst du möglicherweise feststellen, dass sie diesen Caligula-Leuten Mails geschickt hat. Ihr Computer könnte auch belastendes Material enthalten.«
»Warum hat der Täter dann den Biograph an ihrer Leiche gelassen?«, gab Lucy zurück. »Damit läuft er doch Gefahr, dass jemand genau das tut, was wir gerade hier machen.«
»Vielleicht wollte der Mörder ihren Computer und ihr Telefon einfach nur haben«, sagte Scarpetta. »Es müssen nicht notwendigerweise vernünftige Gründe dahinterstecken. Und deshalb hat er auch darauf verzichtet, den BioGraph von ihrer Leiche zu entfernen.«
»Es gibt immer einen Grund«, widersprach Marino.
»Jedoch nicht die Art von Grund, die du meinst. Womöglich handelt es sich um eine andere Form von Verbrechen«, widersprach Scarpetta und musste dabei an ihr BlackBerry denken.
Sie hatte lange über die Motive für den Diebstahl nachgegrübelt und den Eindruck gewonnen, dass sie sich, was Carley Crispins Pläne mit ihrem BlackBerry betraf, geirrt hatte. Es ging nicht nur um Carleys Bemerkung am Columbus Circle auf dem Heimweg von CNN: »Ich wette, Sie mit Ihren Beziehungen könnten jeden zu allem überreden.« Als habe sie damit andeuten wollen, Scarpetta hätte keine Mühe gehabt, Gäste in ihre Fernsehsendung zu locken, vorausgesetzt, dass sie eine hatte. Daraus hatte Scarpetta ein Motiv für den Diebstahl ihres Smartphones konstruiert. Sie hatte angenommen, dass Carley interessiert an Informationen und an ihren Kontakten war. Vielleicht hatte sie wirklich die Gelegenheit genutzt, um sich die Fotos vom Fundort zu beschaffen. Doch letztlich war das BlackBerry vermutlich weder für Carley oder gar Agee bestimmt gewesen, sondern für eine dritte Person. Für einen Menschen, der böse und gerissen war. Zuletzt hatte sich das Telefon in Agees Besitz befunden. Es konnte durchaus sein, dass er es an jemand anderen weitergereicht hätte, wäre er nicht vorher von der Brücke gesprungen.
»Wenn jemand einen Mord begeht und an den Tatort zurückkehrt, dann nicht zwingend deshalb, weil er an Verfolgungswahn leidet und seine Spuren verwischen will«, erklärte Scarpetta. »Manchmal tut er es auch, um seine Gewalttat, die er als befriedigend empfunden hat, noch einmal Revue passieren zu lassen. Vielleicht gibt es ja in Tonis Fall mehr als ein Motiv. Ihr Laptop und ihr Telefon sind Souvenirs und haben es dem Täter außerdem ermöglicht, sich als sie auszugeben, bevor ihre Leiche gefunden wurde. Indem er in ihrem Namen gegen acht Uhr am Mittwochabend mit ihrem Telefon eine SMS an ihre Mutter geschickt hat, konnte er uns, was den Todeszeitpunkt betrifft, auf eine
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