Schach von Wuthenow
gehen, dem Alten danken für manches gute Wort aus längst vergangener Zeit her und ihn in seinem Boot über den See hin zurückbegleiten. Unterwegs aber wollt er ihm alles sagen, ihm beichten und seinen Rat erbitten. Er würde schon Antwort wissen. Das Alter sei allemal weise, und wenn nicht von Weisheits, so doch bloß schon von Alters wegen. »Aber«, unterbrach er sich mitten in diesem Vorsatze, »was soll mir schließlich seine Antwort? hab ich diese Antwort nicht schon vorweg? hab ich sie nicht in mir selbst? Kenn ich nicht die Gebote? Was mir fehlt, ist bloß die Lust, ihnen zu gehorchen.«
Und während er so vor sich hin redete, ließ er den Plan eines Zwiegesprächs fallen und stieg den Schloßberg wieder hinauf.
Er hatte von dem Gottesdienst in der Kirche nichts abgehandelt, und
doch
schlug es erst zehn, als er wieder oben anlangte.
Hier ging er jetzt durch alle Zimmer, einmal, zweimal, und sah sich die Bilder aller der Schachs an, die zerstreut und in Gruppen an den Wänden umherhingen. Alle waren in hohen Stellungen in der Armee gewesen, alle trugen sie den Schwarzen Adler oder den Pour le mérite.
Das
hier war der General, der bei Malplaquet die große Redoute nahm, und
das
hier war das Bild seines eigenen Großvaters, des Obersten im Regiment Itzenplitz, der den Hochkirchner Kirchhof mit vierhundert Mann eine Stunde lang gehalten hatte. Schließlich fiel er, zerhauen und zerschossen, wie alle die, die mit ihm waren. Und dazwischen hingen die Frauen, einige schön, am schönsten aber seine Mutter.
Als er wieder in dem Gartensalon war, schlug es zwölf. Er warf sich in die Sofaecke, legte die Hand über Aug und Stirn und zählte die Schläge. »Zwölf. Jetzt bin ich zwölf Stunden hier, und mir ist, als wären es zwölf Jahre... Wie wird es sein? Alltags die Kreepschen und sonntags Bienengräber oder der Radenslebensche, was keinen Unterschied macht. Einer wie der andre. Gute Leute, versteht sich, alle gut... Und dann geh ich mit Victoire durch den Garten, und aus dem Park auf die Wiese, dieselbe Wiese, die wir vom Schloß aus immer und ewig und ewig und immer sehn und auf der der Ampfer und die Ranunkeln blühn. Und dazwischen spazieren die Störche. Vielleicht sind wir allein; aber vielleicht läuft auch ein kleiner Dreijähriger neben uns her und singt in einem fort: ›Adebar, du Bester, bring mir eine Schwester.‹ Und meine Schloßherrin errötet und wünscht sich das Schwesterchen
auch
. Und endlich sind elf Jahre herum, und wir halten an der ›ersten Station‹, an der ersten Station, die die ›stroherne Hochzeit‹ heißt. Ein sonderbares Wort. Und dann ist auch allmählich die Zeit da, sich malen zu lassen, malen zu lassen für die Galerie. Denn wir dürfen doch am Ende nicht fehlen! Und zwischen die Generäle rück ich dann als Rittmeister ein, und zwischen die schönen Frauen kommt Victoire. Vorher aber hab ich eine Konferenz mit dem Maler und sag ihm: ›Ich rechne darauf, daß Sie den
Ausdruck
zu treffen wissen. Die Seele macht ähnlich.‹ Oder soll ich ihm geradezu sagen: ›Machen Sie's gnädig‹... Nein, nein!«
Fünfzehntes Kapitel
Die Schachs und die Carayons
Was immer geschieht, geschah auch diesmal: die Carayons erfuhren nichts von dem, was die halbe Stadt wußte. Dienstag, wie gewöhnlich, erschien Tante Marguerite, fand Victoiren »um dem Kinn etwas spitz« und warf im Laufe der Tischunterhaltung hin: »Wißt ihr denn schon, es sollen ja Karikatüren erschienen sein?«
Aber dabei blieb es, da Tante Marguerite jenen alten Gesellschaftsdamen zuzählte, die nur immer von allem »gehört haben«, und als Victoire fragte: »
Was
denn, liebe Tante?«, wiederholte sie nur: »Karikatüren, liebes Kind. Ich weiß es ganz genau.« Und damit ließ man den Gesprächsgegenstand fallen.
Es war gewiß ein Glück für Mutter und Tochter, daß sie von den Spott- und Zerrbildern, deren Gegenstand sie waren, nichts in Erfahrung brachten; aber für den
Dritt
beteiligten, für Schach, war es ebenso gewiß ein Unglück und eine Quelle neuer Zerwürfnisse. Hätte Frau von Carayon, als deren schönster Herzenszug ein tiefes Mitgefühl gelten konnte, nur die kleinste Vorstellung von all dem Leid gehabt, das, die ganze Zeit über, über ihren Freund ausgeschüttet worden war, so würde sie von der ihm gestellten Forderung zwar nicht Abstand genommen, aber ihm doch Aufschub gewährt und Trost und Teilnahme gespendet haben; ohne jede Kenntnis jedoch von dem, was inzwischen vorgefallen war,
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