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Schadensersatz

Schadensersatz

Titel: Schadensersatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Paretsky
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einem Loch im Kopf vorgefunden hatte, kam McGraw vermutlich zu der Schlussfolgerung, dass es sie als Nächste treffen würde - ob sie nun seine Tochter war oder nicht.
    Demzufolge raste er nach Hyde Park hinüber, getrieben von dem entsetzlichen Gedanken, er könnte auch ihre Leiche vorfinden. Stattdessen war sie verschwunden. So weit, so gut.
    Wenn es mir nun gelänge, Anita aufzuspüren, würde sich das Geheimnis lüften. Sollte ich aber dem Geheimnis auf die Spur kommen, so konnte ich damit an die Öffentlichkeit gehen; dieser fürchterliche Druck würde nicht mehr auf dem Mädchen lasten, und es könnte sich unter Umständen zur Rückkehr entschließen. Das klang nicht schlecht.
    Aber wie verhielt es sich mit Thayer? Weshalb hatte sich McGraw seiner Visitenkarte bedient, und weshalb hatte ihn das derart aufgeregt? Ging es ihm nur ums Prinzip? Ich müsste einmal allein mit ihm reden.
    Ich zahlte und fuhr erneut zur Universität. Der Fachbereich Politische Wissenschaften war im vierten Stock eines der älteren Universitätsgebäude untergebracht. An diesem heißen Sommernachmittag waren die Gänge leer gefegt. Durch die Fenster im Treppenhaus sah ich Grüppchen von Studenten lesend oder schlafend auf dem Rasen liegen. Ein paar energiegeladene Jungs spielten Frisbee. Ein irischer Setter sprang um sie herum und versuchte, die Scheibe zu erwischen.
    In der Fachbereichsverwaltung hielt ein Student die Stellung. Er sah aus wie ungefähr siebzehn; langes blondes Haar hing ihm in die Stirn, aber er war bartlos. Irgendwie schien er noch nicht so weit zu sein, sich einen Bart wachsen zu lassen. Er trug ein T-Shirt mit einem Loch unter der linken Achsel und kauerte über einem Buch. Als ich grüßte, sah er widerwillig auf, ließ aber das Buch offen auf dem Schoß liegen.
    Ich lächelte ihn liebenswürdig an und erklärte, dass ich nach Anita McGraw suchte. Nachdem er einen feindseligen Blick auf mich abgeschossen hatte, wandte er sich ohne ein Wort wieder seinem Buch zu.
    »Was soll das? Darf man nicht mal nach ihr fragen? Sie ist Studentin dieses Fachbereichs, stimmt's?«
    Er weigerte sich, den Blick von seinem Buch zu lösen. Ich spürte, wie ich in Wut geriet, überlegte jedoch gleichzeitig, ob Mallory schon vor mir da gewesen war. »Hat sich die Polizei schon nach ihr erkundigt?«
    »Das sollten Sie doch am besten wissen«, murmelte er, ohne aufzublicken.
    »Sie glauben also, ich sei von der Polizei, nur weil ich keine schlampigen Jeans trage?«, meinte ich.
    »Wie wär's, wenn Sie für mich ein nach Fachrichtungen gegliedertes Vorlesungsverzeichnis hervorzaubern würden?«
    Er rührte sich nicht. Ich ging um den Schreibtisch herum und zog auf seiner Seite ein Schubfach auf.
    »Schon gut, schon gut«, sagte er gereizt. Er legte das Buch mit dem Rücken nach oben auf seinen Schreibtisch. Kapitalismus und Freiheit , von Marcuse. Hätte ich mir ja denken können. Er kramte in einer Schublade herum und brachte eine neunseitige maschinengeschriebene und vervielfältigte Liste mit der Überschrift »Vorlesungsverzeichnis - Sommer 1979« zum Vorschein.
    Ich überschlug die Seiten, bis ich zur Fachrichtung Politische Wissenschaften gelangte. Die Veranstaltungen dieses Semesters nahmen eine Seite ein. Unter den Vorlesungen fanden sich Themen wie »Das Konzept der Staatsbürgerschaft nach Aristoteles und Plato«, »Der Idealismus von Descartes bis Berkeley« und »Die Politik der Supermächte und die Idee des Weltverschwindens«. Faszinierend. Endlich fand ich - etwas Vielversprechenderes: »Die kapitalistische Herausforderung: Gewerkschaften gegen Arbeitnehmer«. Der Dozent einer solchen Vorlesung besaß sicherlich große Anziehungskraft auf eine junge Gewerkschaftlerin wie Anita McGraw. Vielleicht kannte er sogar einige ihrer Freunde. Der Name des Dozenten war Harold Weinstein.
    Ich fragte den Jungen, wo sich Weinsteins Büro befand. Er kroch noch weiter in den Marcuse hinein und gab vor, nichts gehört zu haben. Wieder begab ich mich auf die andere Seite des Schreibtisches und setzte mich auf die Tischplatte, das Gesicht ihm zugewandt; ich packte ihn mit einem Ruck am Kragen und riss seinen Kopf hoch, sodass ich ihm in die Augen sehen konnte. »Ich weiß, dass du der Meinung bist, der Revolution einen großen Dienst zu erweisen, wenn du den Schweinen Anitas Aufenthaltsort nicht bekannt gibst«, sagte ich liebenswürdig. »Wenn man ihre Leiche in einem Kofferraum entdeckt, wirst du mich vielleicht zu der Party einladen, auf der

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