Schadrach im Feuerofen
weiter und gelangt nach wenigen Minuten zu Stufen, die auf eine freie Fläche hinabführen, einen gepflasterten Platz, dessen Rückseite von einer mächtigen Wand aus riesigen, roh behauenen Steinblöcken eingenommen wird. Schadrach schlendert über den Platz und auf die gigantische Mauer zu und studiert dabei seinen Stadtplan, um die Orientierung wiederzufinden. Er erinnert sich, daß er bei der Zitadelle nach links und später wieder nach rechts abgebogen ist; vielleicht befindet er sich im alten Judenviertel und schon wieder in der Nähe des Felsendoms und der AI Aqsa-Moschee. In diesem Fall…
»Sie sollten an diesem Ort den Kopf bedecken«, sagt eine ruhige Stimme neben ihm. »Sie stehen auf heiligem Boden.«
Ein kleiner, dicker alter Mann ist auf ihn zugetreten. Aus dem gebräunten, gefurchten Gesicht blinzeln kleine Äuglein unter buschigen weißen Brauen zu Schadrach auf. Der Mann trägt eine runde schwarze Judenkappe und zieht nun eine zweite aus der Tasche, um sie Schadrach mit höflicher, aber bestimmter Gebärde hinzustrecken.
»Ist nicht diese ganze Stadt heiliger Boden?« sagt Schadrach, als er die Kappe nimmt.
»Jeder Fußbreit ist jemandem heilig, ja. Die Araber haben ihre heiligen Stätten, die Kopten, die Griechisch-Orthodoxen, die Armenier, die Maroniten, alle. Aber dies ist unsere heilige Stätte. Kennen Sie die Mauer nicht?«
»Die Mauer?« sagt Schadrach verlegen und starrt die großen, verwitterten Steinblöcke an, um dann seinen Stadtplan zu Hilfe zu nehmen. »Ach ja, natürlich. Sie meinen, dies ist die Klagemauer? Ich wußte nicht…«
»Nach der Rückeroberung im Jahre 1067, als das Klagen eine Zeitlang aufhörte, nannten wir sie die Westliche Mauer. Jetzt ist sie wieder die Klagemauer. Obwohl ich persönlich nicht so sehr an den Nutzen der Klage glaube, nicht einmal in Zeiten wie diesen.« Der kleine alte Mann lächelt. »Unter welchem Namen sie auch immer erscheinen mag, für uns Juden ist sie ein Allerheiligstes. Der letzte Überrest des Tempels.«
»Ja, richtig. Sie gehörte zu Salomons Tempel, nicht wahr?«
»Nein, diese nicht. Die Babylonier zerstörten den ersten Tempel vor zweitausendsiebenhundert Jahren. Dies ist die Mauer des zweiten Tempels, des Tempels des Herodes, der von den Römern unter Titus dem Erdboden gleichgemacht wurde. Die Mauer ist alles, was die Römer stehen ließen. Wir verehren sie, weil sie für uns ein Symbol nicht nur der Verfolgung ist, sondern der Ausdauer und des Überlebens. Ist dies Ihr erster Besuch in Jerusalem?«
»Ja.«
»Amerikaner?«
»Ja«, sagt Schadrach.
»Das bin ich auch, sozusagen. Aber ich verbrachte dort nur die ersten sechs Jahre meines Lebens. 1948 brachten meine Eltern mich hierher, und seitdem lebe ich in Jerusalem. Für mich ist die Mauer noch immer der Mittelpunkt der Welt. Jeden Tag komme ich hierher. Obwohl es einen Staat Israel nicht mehr gibt, obwohl es überhaupt keine Nationalstaaten mehr gibt, keine Träume, keine…«Er hält inne. »Vergeben Sie mir. Ich rede zuviel. Möchten Sie an der Mauer beten?«
»Ich bin kein Jude«, sagt Schadrach.
»Das macht nichts. Kommen Sie mit mir. Sind Sie Christ?«
»Eigentlich nicht.«
»Haben Sie überhaupt keine Religion?«
»Nein. Aber ich würde mir die Mauer gern aus der Nähe ansehen.«
»Dann kommen Sie.« Sie wandern gemächlich über den Platz. Nach einer Weile sagt der kleine alte Mann: »Übrigens, ich bin Mischach Jakov.«
»Mischach?«
»Ja. Es ist ein Name aus der Bibel, aus dem Buch Daniel. Mischach war einer der drei Juden, die sich Nebukadnezar widersetzten, als der König ihnen befahl…«
»Ich weiß«, sagt Schadrach lachend, »ich weiß! Sie brauchen mir die Geschichte nicht zu erzählen. Ich bin Schadrach!«
»Wie bitte?«
»Schadrach. Schadrach Mordechai. Das ist mein Name.«
»So, Ihr Name«, sagt Mischach Jakov. Auch er lacht jetzt. »Schadrach Mordechai: das ist ein schöner Name. Ein schöner jüdischer Name. Wie kommt es, daß Sie ihn tragen, obwohl Sie kein Jude sind?«
»Ich bekam den Namen meinem Taufpaten zu Ehren, der genauso hieß und ein Wohltäter meiner Eltern war.«
»Ich verstehe. Also, Schalom, Schadrach!«
»Schalom, Mischach!«
Sie lachen fröhlich über das seltsame Zusammentreffen. Schadrach blickt umher. Der Milizionär, der dort drüben steht – ist er am Ende Abdenago? Sie erreichen die Mauer, und ihr Lachen verstummt. Die großen verwitterten Steinblöcke scheinen unglaublich alt, so alt wie die Pyramiden, wie die
Weitere Kostenlose Bücher