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Schadrach im Feuerofen

Schadrach im Feuerofen

Titel: Schadrach im Feuerofen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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der von der Seuche verschont blieb, will nicht dem Unsterblichkeitswahn eines anderen erliegen. Die Passivität ist von ihm abgefallen; er findet sich nicht mehr mit dem Schicksal ab, das ihm zugewiesen wurde. Bhischma Das nannte ihn einen Optimisten, einen weisen und guten Mann, dessen Augen leuchten, der von den besseren Zeiten der Zukunft spricht, und wenngleich Schadrach sich selbst nie so gesehen hat, so ist er doch erfreut, daß Bhischma Das ihn so sah. Es ist angenehm, als ein Mann zu gelten, der Freude verbreitet, der eine Quelle der Hoffnung und des Vertrauens ist. Er probiert die Vorstellung an und findet, daß sie ihm steht. Es ist ein wenig wie Lächeln, wenn einem nicht zum Lächeln zumute ist: man fühlt das Lächeln von den Gesichtsmuskeln tiefer dringen, bis es die Seele erreicht. Warum nicht lächeln, warum nicht in der Hoffnung auf Wiederauferstehung leben? Es kostet nichts. Es macht andere glücklicher. Zeigt sich nachher, daß man sich getäuscht hat, wie es zweifellos der Fall sein wird, so hat man seine Zeit wenigstens in einem warmen kleinen Raum inneren Lichts verbracht, statt in klammer dunkler Verzweiflung.
    Aber es ist schwierig, dem eigenen Optimismus Überzeugungskraft zu verleihen, wenn die Drohung bevorstehenden Unheils über einem schwebt. Schadrach faßt den Entschluß, sich irgend etwas auszudenken, um dem Problem des Avatara-Projekts zu begegnen.
     
    8. September 2001
    Also bleibt es mir doch erspart, ein Opfer der Organzersetzung zu werden. Heute bekam ich meine erste Dosis von Ronkevics Immunisierung. Es heißt, man sei sicher, wenn der Abstrich keine Spur von aktiven Viren zeige, während die Immunisierung wirkungslos bleibe, wenn der Erreger bereits aktiv und infektiös geworden sei. Meine Abstriche waren sauber: ich bin in Sicherheit. Es mag seltsam klingen, doch ich zweifelte nie daran, daß ich verschont bleiben würde. Es war mir nicht beschieden, im Viruskrieg umzukommen; das Schicksal hatte noch etwas mit mir vor. Ich mußte die allgemeine Katastrophe überleben und in dieser Zeit meine Erfüllung finden. »Sie werden hundert Jahre alt«, sagte Ronkevic heute früh zu mir. Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll; es hieße, daß mir nur noch fünfundzwanzig Jahre blieben. Das ist nicht genug. Nicht genug.
    Gleichgültig, was geschieht, ich werde den armen Ronkevic überleben. Er hat bereits die Organzersetzung. Sie frißt in seinen Eingeweiden. Wie hart hat er gearbeitet, um seine Immunisierung zu entwickeln, wie muß er gehofft haben, sich selbst zu retten! Aber es war zu spät. Die Seuche lebte zu früh in ihm auf, und er ist verloren. Er geht, ich bleibe. Er spielt die ihm zugemessene Rolle in dem Drama und verläßt die Bühne, während ich fortlebe, vielleicht für weitere fünfzig Jahre. Meine körperliche Vitalität ist immer außergewöhnlich gewesen. Ohne Zweifel sind meine physischen ebenso wie meine psychischen Energien von einer höheren Ordnung, denn ich bin bereits über die siebzig hinaus und habe die Lebenskraft eines jungen Mannes bewahrt. Ich habe allen Krankheiten und der Müdigkeit des Alters getrotzt. Die Berichte sagen, daß der Vorsitzende Mao, als er über siebzig war, in einer Stunde und fünf Minuten zwölf Kilometer im Yangtse schwamm. Schwimmen interessiert mich nicht; doch ich weiß, daß ich in diesen fünfundsechzig Minuten fünfzehn Kilometer schwimmen könnte, wenn es notwendig würde. Zwanzig könnte ich schwimmen!
     
    Jerusalem ist kälter als Schadrach erwartete – beinahe kühl wie Ulan Bator an diesem Morgen im späten Frühling – und auch kleiner, erstaunlich klein für einen Ort, der soviel Geschichte gemacht hat. Für die im Krieg niedergebrannte Neustadt mit dem Regierungsviertel gab es nach Kriegsende keine Bewohner mehr, und so ebnete man sie größtenteils ein. Als Resultat bietet die biblische Stadt einen Anblick, wie man ihn seit dem neunzehnten Jahrhundert nicht mehr kannte. Schadrach logiert in einem kleinen Hotel beim Karmeliterkloster Et-Tur auf dem Ölberg. Von seinem Balkon genießt er einen prachtvollen Blick auf die ummauerte Altstadt. Ehrfurcht und Nachdenklichkeit erfüllen ihn, als er zum ersten Mal darüber hinblickt. Die zwei mächtigen schimmernden Kuppeln dort hinten – sein Stadtplan sagt ihm, daß die goldene Kuppel dem Felsendom gehört, der sich auf dem Platz von Salomos Tempel erhebt, während die silbrig schimmernde Halbkugel Teil der AI Aqsa-Moschee ist –, und die mit Türmen und Zinnen

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