Schadrach im Feuerofen
Dolorosa eingelassene Marmortafeln bezeichnen die Kreuzwegstationen: hier nahm Jesus das Kreuz auf sich, hier fiel Er zum ersten Mal, hier begegnete Er Seiner Mutter und so weiter. Und heute schleppen sich diese Todkranken und Sterbenden die Via Dolorosa hinauf, jeder gefangen in seiner eigenen Kreuzigung. Wie in Nairobi starren sie ihn an, ohne daß sie ihn zu sehen scheinen. Nur wenige strecken unauffällig die Hand aus, wenn der gutgekleidete schwarze Mann des Weges kommt. In der neuen Zeit ist Betteln verpönt; die Regierung erhebt den Anspruch, für alle zu sorgen und jedem sein Auskommen zu garantieren. Aber vielleicht wollen die Unglücklichen gar nicht betteln; vielleicht erbitten sie seinen Segen? Dies ist eine Stadt, wo Wunder einst nicht ungewöhnlich waren, und der schwarze Fremdling ist ein Mann von Würde und Haltung: wer weiß, vielleicht wandelt ein neuer Erlöser durch diese Gassen? Doch Schadrach hat keine Wunder zu bieten. Er ist hilflos. Er ist ebenso ein toter Mann wie sie es sind, obgleich er wie ein Gesunder umhergeht.
Er kommt sich allzu auffallend vor, zu groß, zu schwarz, zu fremdartig, zu gesund. Kinder laufen ihm nach, rufen und lachen. Es gibt zu viele Kinder hier, die ihre freien Stunden unbeaufsichtigt verbringen und in Rudeln die Gassen durchstreifen. Viele von ihnen sind Waisen, eine wilde, rohe Generation, die zu früh die Geborgenheit des Elternhauses entbehren mußte. Schadrach hat die demographischen Untersuchungen gesehen: am schlimmsten hat die Seuche sich auf jene Altersgruppe ausgewirkt, die jetzt zwischen fünfundzwanzig und vierzig ist und der auch Schadrach angehört. Es sind diejenigen Menschen, die während des Viruskriegs Kinder waren. Viele von ihnen überlebten die Eltern und wuchsen zu scheinbar gesunden Erwachsenen heran; sie heirateten und setzten Kinder in die Welt, und dann, nachdem sie die Welt mit kleinen Wilden versehen hatten, starben sie. Die Partei hat eine Jugendorganisation gegründet und überall Heime und Lager für diese verlassenen Kinder eingerichtet, aber die bereits verwahrlosten Jugendlichen finden keinen Geschmack an der geforderten Disziplin, und das System leidet unter dem Mangel an Erziehern und vielen anderen Engpässen.
Es ist zuviel für Schadrach – die aufdringlichen Kinder, die in allen Winkeln kauernden und liegenden Kranken, der Schmutz, die ungewohnte Dichte der Bevölkerung, die sich in dieser kleinen ummauerten Stadt drängt. Es gibt keine Möglichkeit, der überwältigenden Traurigkeit des Ortes zu entkommen. Er hätte die Stadt niemals betreten sollen; es wäre weit besser gewesen, wenn er sie von seinem Hotelbalkon aus betrachtet und romantische Gedanken über Salomo und Saladin nachgehangen hätte. Er wird angestoßen, betastet und gerempelt; er bekommt rau und unfreundlich klingende Worte in Sprachen zu hören, die er nicht versteht; er wird von hartnäckigen Schwarzhändlern verfolgt, die ihm seine Kleidung und seine Uhr abkaufen und Silberschmuck und anderes verkaufen wollen. Verdächtig aussehende Gestalten wollen ihn wahlweise zu den religiösen Städten oder zu willfährigen Frauen führen, deren Schönheitsattribute mit drastischen Gesten angedeutet werden. Ohne die Hilfe solcher Führer findet er den Weg zur Grabeskirche, einem schmierigen und unschönen Gebäude, geht aber nicht hinein, denn vor dem Haupteingang streiten Priester verschiedener Sekten, brüllen gegeneinander an, schütteln die Fäuste und werden sogar handgemein, zerren einander an Bärten und Soutanen, zerreißen sich die Chorröcke. Sich abwendend, findet er hinter der Kirche einen geschäftigen Basar – genauer gesagt einen Flohmarkt –, wo die Überreste der untergegangenen Ära zum Verkauf ausliegen: zerbrochene und schadhafte Transistorradios, Fernsehgeräte, Außenbordmotoren, ein Durcheinander von Autobestandteilen, Rädern, Kameras, Elektrorasierern, Telefongeräten, Pumpen und Staubsaugern, von Tonbandgeräten, Taschenrechnern, Mikroskopen, Plattenspielern, Waschmaschinen und Verstärkern, alles verstaubt und mehr oder minder defekt, die Trümmer des verschwenderischen zwanzigsten Jahrhunderts, angespült an diesen seltsamen Strand. Trotz des desolaten Zustands der meisten Waren haben die Händler sich nicht über mangelndes Interesse zu beklagen. Schadrach sieht sich außerstande, zu erraten, welchen Verwendungen diese Überreste und Bruchstücke im palästinensischen Hinterland zugeführt werden mögen.
Er geht in südlicher Richtung
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