Schadrach im Feuerofen
bewehrte Stadtmauer, die uralten Tore und das Gewirr der Gassen dahinter, alles zeugt von menschlicher Zähigkeit, von den langsamen Gezeiten der Geschichte, dem Kommen und Gehen von Eroberern und Reichen. Die Stadt Davids und Salomos, die von Nebukadnezar zerstört und von Nehemia wiederaufgebaut wurde, die Stadt der Makkabäer und des Herodes, die Stadt, wo Jesus litt und starb, und von den Toten wiedererstand, die Stadt, wo Mohammed in einer Vision zum Himmel auffuhr, die Stadt der Kreuzritter und Pilger, der Legenden und Märchen, wo die Schichten menschlicher Besiedlung und ihrer Geschichte einander so zahlreich und kompliziert überlagern wie an kaum einem anderen Ort – diese kleine Stadt aus lehmbraunem Stein sagt ihm, daß apokalyptische Stunden von solchen der Wiedergeburt und Neuaufbau gefolgt werden, daß kein Unheil ewig währt. Die Stimmung, die ihn überkam, als er mit Bhischma Das zusammen war, hat die Reise von Afrika hierher überlebt. Jerusalem ist wahrhaft eine Stadt des Lichts, eine Stadt der Freude. Jerusalem, die Goldene, die Stadt der Könige und Propheten, und hier steht er vor ihren Toren, zitternd vor Erwartung. Er verläßt das Hotel und wandert den Hang hinab, auf die Mauern zu, die auf dieser Seite wie vor Jahrtausenden die Stadtgrenze bilden.
Aber als er durch das Stephanstor die Stadt betritt und der Via Dolorosa folgt, beginnen sich seine romantischen und verklärenden Träume unerwartet zu verflüchtigen, und er fragt sich, wie er dem biederen Inder so leichtfertig von den kommenden guten Zeiten hatte erzählen können. Mit seinen schmalen, steilen Gassen und ineinander verschachtelten uralten Häusern, den offenen Verkaufsständen und Basaren, wo sich Töpfe und Pfannen, Fische und Äpfel, Backwaren und abgehäutete Lämmer stapeln, mit seinen orientalischen Gerüchen und Gewürzen, seinen hakennasigen alten Arabern ist Jerusalem unleugbar malerisch, aber ein kalter Wind fegt durch die schmutzigen Gassen, und alle, die er sieht, Kinder und Bettler, Händler und Käufer, Lastenträger und Arbeiter scheinen von dumpfer Verzweiflung gezeichnet, von jenem hohläugigen, resignierten Ausdruck, der nicht das Zeichen von ausdauerndem Beharren ist, sondern von erwarteter Niederlage und Schicksalsergebung: die Assyrer kommen, die Römer kommen, die Perser kommen, die Sarazenen kommen, die Türken kommen, die Organzersetzung kommt, und wir werden zerschmettert, werden für immer ausgelöscht werden.
Selbst im Inneren dieser mittelalterlichen Mauern ist es unmöglich, dem einundzwanzigsten Jahrhundert zu entfliehen. Wie er nach Golgatha hinaufsteigt, sieht Schadrach überall das gewohnte Trauerplakat mit Mangus Konterfei, das ernste, kluge Gesicht vor dem leuchtendgelben Hintergrund. Natürlich waren diese Plakate auch in Nairobi angeschlagen, doch in jener weitläufig und luftig angelegten Stadt waren sie, von der allgegenwärtigen Blütenpracht verdeckt und zurückgedrängt, weniger auffällig gewesen. Hier leuchten die Plakate von Torbögen über Durchgängen, die kaum breit genug sind, daß zwei Menschen nebeneinander gehen können, gelbe Leuchtzeichen, denen niemand ausweichen kann. Für Schadrach ist der Anblick eine unwillkommene Erinnerung an eine Welt, der er zu entfliehen sucht, und ihm ist, als hätte sich die Hand des fernen alten Mannes unversehens auf die Stadt gelegt. Wenig später sieht er, daß Dschingis Khan II. Mao noch unmittelbarer gegenwärtig ist: die vertrauten lederigen Züge blicken an allen größeren Straßenkreuzungen von windgeblähten roten Transparenten, flankiert von Parolen in weißen arabischen Schriftzeichen. Die Einheimischen nehmen diese Bilder und Zeichen so gleichgültig hin, wie sie in früheren Zeiten die Anschläge und Banner von Nebukadnezar, Ptolemäus, Titus, Chosroes, Saladin, Suleiman dem Prächtigen und all den anderen fremden Eroberern hingenommen haben mögen, aber Schadrach fühlt sich von diesen vervielfältigten Mongolengesichtern unablässig an die dahinschwindenden Stunden seines Lebens gemahnt.
Hinzu kommt, daß die Seuche auch hier allgegenwärtig ist. Vielleicht nicht so auffallend wie in Nairobi, dessen breite Straßen die mühsam sich dahinschleppenden Gestalten der Kranken unbarmherzig den Blicken preisgaben. Dafür ist das alte Jerusalem zu verwinkelt. Doch auch hier fehlt es nicht an Opfern, die in höhlenartigen Eingängen und auf Stufen kauern und sich wankend die Mauern der Gassen entlangtasten.
In die Hauswände der Via
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