Schadrach im Feuerofen
Schadrach Mordechais berufliche Nähe zum Vorsitzenden. Diese Leute sind sich bewußt, daß er zu den wenigen gehört, die persönlichen Umgang mit Dschingis Kahn II. Mao haben, und etwas vom Nimbus des Vorsitzenden ist auf ihn übergegangen und bewirkt, daß man sich nicht unbefangen an ihn wendet. Er bedauert das, vermag aber wenig dagegen.
Der Magnetkissenzug fährt ein. Schadrach und Nicki sind unterwegs nach Karakorum.
Karakorum. Vor achthundert Jahren von Dschingis Khan gegründet. Von seinem Sohn Ügödei aus einer Nomadensiedlung zu einer glänzenden Hauptstadt gemacht. Eine Generation später von Dschingis Khans Enkel Kublai Khan aufgegeben, der es vorzog, in Peking zu residieren. Später von Kublai Khan zerstört, als sein rebellischer jüngerer Bruder versuchte, die alte Mongolenhauptstadt zum Zentrum seines Auf Stands zu machen. Nach einiger Zeit wieder aufgebaut, abermals verlassen und dem Verfall preisgegeben, schließlich gänzlich in Vergessenheit geraten, erst im zwanzigsten Jahrhundert von Archäologen aus der Sowjetunion und der Mongolischen Volksrepublik wiederentdeckt und zur Jahrtausendwende auf Veranlassung Dschingis Khan II. Mao um ein – nach Meinung von Kulturhistorikern freilich geschmackloses und fragwürdiges – neues Karakorum bereichert, das die Welt an die Größe Dschingis Khans erinnern und die Jahrhunderte der Bedeutungslosigkeit vergessen machen soll, die auf den Niedergang der mongolischen Großreiche folgte.
Nachts glitzert und funkelt das neue Karakorum wie einer der alten Rummelplätze längst versunkener Zeiten. Beim Verlassen der unterirdischen Station erblicken Schadrach und Nicki zur Linken die ausgegrabenen Ruinen des alten Karakorum: eine einsame Schildkrötenplastik aus Stein im gelben Steppengras, die niedrigen Umrisse einiger Ziegelmauern, eine geborstene Säule. In der Nähe erheben sich graue Stupas, Erinnerungsmonumente an heilige Lamapriester, errichtet im sechzehnten Jahrhundert. Vor den dürren Hügeln in der Ferne liegen die mit schneeweißem Stuck verkleideten Gebäude der Karakorum-Staatsfarm, einer grandiosen Schöpfung der alten Mongolischen Volksrepublik, zu der eine halbe Million Hektar Grasland gehören. Zwischen den Farmgebäuden und den alten Stupas liegt das Karakorum des Vorsitzenden, eine talmihafte und fantastische Rekonstruktion der ursprünglichen Stadt mit dem ausgedehnten Palast des Ügödei, nach der Vorstellung seiner Neuerbauer voller Säulenarkaden, dem exotisch anmutenden, vieltürmigen Observatorium, den Moscheen und Kirchen, den prächtig eingerichteten Jurten und Seidenzelten des mongolischen Adels, den mit geschweiften Dächern und Drachenköpfen verzierten Ziegelhäusern der chinesischen Kaufleute, dem kuppelreichen, weitläufigen Lehmgebäude einer turkestanischen Karawanserei – alles zur Erinnerung an vergangene Größe, als passender Rahmen für Zerstreuungen und Vergnügungen und schließlich zum größeren Ruhm des Vorsitzenden der Vorsitzenden, Dschingis Khan II. Mao, der dem Vernehmen nach mit einem sehr viel bescheideneren mongolischen Namen zur Welt gekommen war, nämlich als Choijamtse oder Ochirbal, je nach der bevorzugten Version, und ein ziemlich unbedeutender Parteifunktionär in der Hierarchie der alten Mongolischen Volksrepublik gewesen war, bevor die Welt von den Flammen des Krieges verheert worden war und der spätere Vorsitzende, inzwischen zum Marschall und Volkshelden aufgestiegen, mit beispielloser Härte und Energie die Weltrevolution vorangetrieben hatte.
Heute ist das – ursprünglich als Gedenkstätte konzipierte – neuerstandene Karakorum ein Vergnügungspark, ein Ort der Lustbarkeit und des Genusses, erfüllt von hektischem Leben. In den Palastgebäuden und Prunkzelten kann man essen und trinken und sogar dem verpönten Glücksspiel frönen. Hier kann man bereitwillige Geschlechtspartner aller Arten finden, und der in einer arm und trist gewordenen Welt verbreiteten Neigung zur Realitätsflucht kommt ein reichhaltiges Angebot von Einrichtungen entgegen, die verschiedene Formen von Halluzinationen bieten – Traumtod, Transtemporalismus und Bewußtseinserweiterung. Schadrach ist ein Anhänger der letzteren; Nicki Crowfoot ist mehr für Transtemporalismus, womit auch er sich schon beschäftigt hat, wenn auch nicht in letzter Zeit. Einmal war er mit Katja Lindman in Karakorum, und diese ungestüme, energische Frau drängte ihn, mit ihr Traumtod zu versuchen, doch er weigerte sich, und noch Tage danach
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