Schadrach im Feuerofen
gelber Himmel.« Der mächtige Vulkan – ist es das? Ein gigantischer Kegel, eingehüllt in Schnee und Rauch, die Flanken von Wolken umgrenzt, der Gipfel in benommen machender Majestät vom dunkelnden Himmel abgehoben. Er hat nie einen solchen Berg gesehen.
Er hält einen Jungen an, der an ihm vorbeirennt.
- Por favor.
Der Junge starrt ihn mit großen, erschrockenen Augen an, bleibt aber stehen.
- Si, senor?
- Como se llama esta montana?
Schadrach zeigt auf den kolossalen, schneebedeckten Vulkan.
Der Junge lächelt und scheint beruhigt. Seine Angst ist verflogen; offenbar befriedigt ihn die Vorstellung, etwas zu wissen, was dieser große, dunkelhäutige Fremde nicht weiß. Er sagt:
- Cotopaxi.
Cotopaxi. Natürlich. Der Transtemporalist hat ihm einen Parkettplatz bei der großen Katastrophe gegeben. Dann ist dies die Stadt Quito in Ekuador, und der mächtige Bergkegel im Südosten, von dem die Rauchfahne emporsteigt, ist der Cotopaxi, höchster aktiver Vulkan der Erde, und dieser Tag muß der 19. August 1991 sein, ein Tag, an den sich jeder erinnert, und Schadrach Mordechai weiß, daß die Erde noch vor Sonnenuntergang erschüttert werden wird, wie sie in der ganzen Menschheitsgeschichte kaum jemals erschüttert worden ist, und daß mit diesem Ereignis ein Zeitalter enden und eine Epoche der Umwälzungen über die Zivilisation hereinbrechen wird. Und er ist der einzige Mensch auf Erden, der das weiß, und hier steht er zu Füßen des großen Cotopaxi und kann nichts tun. Nichts. Nichts als zusehen und zittern und vielleicht mit der halben Million Menschen zugrunde gehen, die umkommen wird, ehe die Sonne im Pazifik versinkt. Kann man sterben, fragt er sich, während man auf diese Weise reist? Ist es nicht bloß ein Traum, und können Träume töten? Kann er unversehrt bleiben, wenn er von einer Eruption träumt, wenn er träumt, daß Tonnen von Lavabrocken und Bimsstein auf seinen zerschmetterten Körper herabregnen?
Der Junge steht immer noch da und starrt ihn an.
- Gracias, amigo.
- De nada, Senor.
Der Junge wartet, vielleicht auf eine Münze, aber Schadrach hat nichts, was er ihm geben könnte, und nach einer kleinen Weile läuft der Junge fort, um nach zehn Schritten innezuhalten, sich umzusehen und die Zunge auszustrecken. Dann rennt er weiter und verschwindet in einer Seitengasse.
Und Augenblicke später grollt und rumpelt es in den Eingeweiden der Erde, und aus einem sekundären Schlot in der Flanke des Vulkans schießt eine weißlichgraue Säule von wenigstens hundert Metern Stärke hoch in die Luft.
In der Stadt kommt alle Bewegung zum Stillstand. Alles steht wie erstarrt; alle Blicke richten sich auf den schneebedeckten Giganten. Die Rauchsäule der Eruption, die mit unglaublicher Geschwindigkeit aus dem Schlot schießt, überragt den Gipfel des Cotopaxi bereits um wenigstens tausend Meter, beginnt sich jetzt auszubreiten und den Himmel wie ein breiter Federbusch auszufüllen. Wieder hört Schadrach ein Geräusch, ein tiefes Dröhnen und Rumpeln, als rolle eine Untergrundbahn durch die Tiefen der Stadt, aber eine Bahn für Riesen, eine titanische Untergrundbahn, die Laternen zum Schwanken bringt und Blumentöpfe von Baikonen wirft. Die von weißem Dampf durchschossene Wolke verfärbt sich grauschwarz, mit rötlichen und schwefelgelben Säumen.
- Ai! El fin del mundo!
- Madre de Dios! La montana!
- Ayuda! Ayuda!
Und die Flucht aus Quito beginnt. Noch ist nichts geschehen, nichts als das unheimliche Rumpeln und Dröhnen im Untergrund und ein leichtes Schwanken des Erdbodens, wenn man vom dumpfen Brüllen und Donnern des Cotopaxi absieht, über dem eine ungeheure und stetig weiterwachsende grauschwarze Wolke steht. Doch die Bewohner der Stadt verlassen ihre Häuser, drängen auf die Straßen und Plätze und beginnen aus der Stadt zu ziehen – nordwärts, fort von der schrecklichen, mit rot und gelb durchschossenen Wolke, die sich über das Land auszubreiten beginnt, fort von dem Tod, der bald über Quito kommen wird. Die meisten haben alles zurückgelassen, tragen nur ein Bündel Kleider oder vielleicht ein Kruzifix bei sich. Es sind Menschen, die sich mit Vulkanen auskennen, und sie bleiben nicht, um sich das Schauspiel anzusehen. Schadrach Mordechai wird vom Menschenstrom mitgerissen. Er überragt die meist untersetzten Gestalten der Mestizen und Indios, die ihm mißtrauische, aber auch seltsam erwartungsvolle Blicke zuwerfen, als hielten sie ihn für einen Magier oder eine schwarze
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