Schadrach im Feuerofen
den breiten, kurzfingrigen Händen und beginnt irgendwelche Gebete oder Zaubersprüche zu murmeln, die Schadrach unverständlich bleiben. Dieser beginnt nun ein leichtes Schwindelgefühl zu verspüren. Dies wird seine dritte transtemporale Erfahrung sein, die erste in fast in einem Jahr. Einmal besuchte er in der Verkleidung eines schwarzen Prinzen aus Äthiopien den Hof Balduins von Flandern, des Kreuzfahrerkönigs von Jerusalem, ein christlicher Mohr als Teilnehmer an den höfischen, großtuerischen Festlichkeiten der Kreuzritter; und einmal fand er sich auf einer Steinpyramide in Mexiko, in weiße Gewänder gehüllt, um mit einem Obsidianmesser die Brust eines rücklings über den Opferaltar Huitzilopochtlis gezogenen, an Armen und Beinen festgehaltenen und in Todesangst sich windenden Spaniers zu öffnen und mit der anderen Hand das lebende Herz herauszureißen. Und jetzt? Er kann sich Zeit und Ort seines Aufenthalts nicht aussuchen. Der Transtemporalist wählt sie für ihn aus, geleitet von unergründlichen Prinzipien oder Launen, gibt ihm mit ein paar Worten, einer geschickten Suggestion die Richtung an, wenn er durch die Droge von seiner Verankerung losgetrennt wird und in die lebende Vergangenheit davontreibt. Seine eigene Fantasie und sein historisches Wissen, vielleicht verbunden mit geflüsterten Stichworten vom Transtemporalisten, während sein von der Droge benebelter Körper am Boden des Zeltabteils liegt, werden den Rest besorgen. Schadrach schwankt jetzt. Alles dreht sich vor seinen Augen. Der Transtemporalist beugt sich näher und spricht, und Schadrach strengt sich an, ist bestrebt, die Worte zu verstehen, er muß hören, was der Mann sagt…
»Es ist die Nacht des Cotopaxi«, raunt ihm der Mongole zu. »Eine rote Sonne, gelber Himmel.«
Das Zeltabteil verschwindet, und Schadrach ist allein.
Wo ist er? In einer Stadt. Nicht in Karakorum. Dieser Ort ist ihm unvertraut, subtropisch, mit schmalen Straßen und Gassen, die sich steile Hügel hinaufziehen, schmiedeeiserne Gitter an Türen und Fenstern, rotblühende Rankengewächse, kühle, klare Luft, Springbrunnen auf geräumigen Plätzen, weißgetünchte Häuser mit Arkadengängen und schmiedeeisernen Baikonen.
Eine lateinamerikanische Stadt, in der die Kolonialzeit fortzuleben scheint, geschäftiges Leben und Treiben.
- Barato aqui!
- Tengo un hambre canina.
Bellende Hunde, Fahrradgeklingel, die Huptöne einzelner Taxis, Lastwagen und Busse, Kindergeschrei, die durchdringenden Rufe von Straßenverkäufern. Frauen rösten kleine Fleischstücke über offenen Holzkohlenfeuern auf den gepflasterten Straßen. Lärmende Geschäftigkeit, und doch keine Hektik. Wo gibt es eine Stadt von so kerniger, natürlich anmutender Lebenskraft? Wo sind die sonst allgegenwärtigen Mahnmale der Zivilisation, die kaum noch bewohnbaren, von Nässe und Verwahrlosung dunkelgestreiften Betongebirge mit den Schutt- und Unrathaufen in den verödeten Durchfahrten? Warum zeigt niemand Anzeichen der Organzersetzung? Die Leute hier sind alle so gesund, sogar die Bettler und die Armen. Eine solche Stadt gibt es nicht. Nicht mehr. Ah. Natürlich. Er träumt eine Stadt, die nicht mehr existiert. Dies ist eine Stadt der Vergangenheit.
- Le telefoneare uno de estos dias.
- Hasta la semana que viene.
Er hat nie Spanisch gesprochen. Und doch versteht er die Worte, als hätte er seit Jahren nichts anderes gehört.
- Donde esta el telefono?
- Vaya de prisa! Tenga cuidado!
- Maricön!
- No es verdad.
Er steht in der Mitte einer belebten Straße, die sich vor ihm einen breiten Hang hinabzieht, und ist vom Panorama überwältigt. Berge! Sie rahmen die Stadt ein, gewaltige, schneebedeckte Kegel, die in der Mittagssonne gleißen. Er hat zu lange auf der mongolischen Hochebene gelebt; Berge wie diese sind ihm unvertraut und fremd geworden. In ehrfürchtiger Bewunderung blickt er zu den gewaltigen, vergletscherten Gipfeln auf, die so riesenhaft sind, daß sie ihm kopflastig erscheinen, im Begriff, herabzustürzen und die geschäftige alte Stadt unter sich zu begraben. Und erhebt sich dort nicht eine Rauchwolke über dem mächtigsten der umgebenden Berge? Er vermag es nicht mit Gewißheit zu sagen. Ist es aus einer so weiten Entfernung – wenigstens fünfzig Kilometer – möglich, eine Rauchwolke zu sehen? Doch, ja. Es ist zweifellos Rauch. Er erinnert sich der letzten Worte, die er gehört hat, ehe der Schwindel ihn übermannte: »Es ist die Nacht des Cotopaxi. Eine rote Sonne,
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