Schadrach im Feuerofen
Sicherheitsmaßnahmen in Ulan Bator und um das Regierungsviertel zu erörtern. Er verhält sich nicht wie ein Mann, der von einem Verlust betroffen wurde, sondern wie ein Despot, der sich und seine Herrschaft bedroht sieht. Es wird nur allzu rasch deutlich, daß Mangus Verlust ihn persönlich wenig oder nichts bedeutet. Er sieht in dem Ereignis nur ein böses Omen für sich selbst und seine Machtposition.
Inmitten dieser grimmigen Pläne blickt der Vorsitzende plötzlich zu Schadrach auf, als sehe er ihn zum ersten Mal, und sagt liebenswürdig: »Sie haben nichts als Ihre Hose an, Doktor. Warum das?«
»Ich kam in größter Eile hierher. Die eingepflanzten Empfänger weckten mich mit einem solchen Schlag, daß ich sofort wußte, es müsse etwas geschehen sein.«
»Ja. Als Horthy mir die Nachricht von dem Attentat brachte, geriet ich in große Erregung.«
»Aber dann mußte ich fünf Minuten vor der Sperre warten, bevor ich eingelassen wurde. Wir sollten das ändern. Eines Tages könnte es in einer kritischen Situation darauf ankommen, daß ich Sie rechtzeitig erreiche, und wenn die Sperre mich dann wieder aufhält, wird es unter Umständen zu spät sein.«
»Hmm. Wir werden noch darüber reden.« Der alte Mann beäugt Schadrachs nackten Oberkörper mit einiger Belustigung und, wie es scheint, Bewunderung, betrachtet die kräftig ausgebildeten Bauchmuskeln, die sehnigen Arme, die kräftigen breiten Schultern. Schadrach weiß, daß er einen schönen Körper hat, einen athletischen und anmutigen Körper, bedeckt mit glatter schokoladenfarbener Haut, der sich seit den Tagen vor annähernd zwanzig Jahren, als er ein respektabler Leichtathlet war, nicht viel verändert hat. Dennoch ist in dieser eingehenden Inspektion durch den alten Mongolen etwas Entnervendes. Nach einem Moment sagt der Vorsitzende beinahe erheitert: »Sie sehen sehr gesund aus, Mordechai.«
»Ich versuche in Form zu bleiben.«
»Dann sind Sie ein kluger Arzt. Viele Männer Ihres Berufs kümmern sich um jedermanns Gesundheit, nur nicht um die eigene. Aber warum waren Sie um diese Zeit noch im Bett?«
»Ich war diese Nacht in Karakorum«, bekennt Schadrach.
Der Alte lacht heiser auf. »Liederlichkeit! Ausschweifung! Versuchen Sie sich damit in Form zu halten?«
»Nun, ich…«
Der Vorsitzende winkt ab. »Lassen Sie nur, Doktor. Es ist nicht mein Ernst.« Seine Stimmung hat in diesen wenigen Minuten einen erstaunlichen Wandel erfahren. Dieses Scherzen, diese Neckerei – es ist schwer zu glauben, daß er vor Minuten noch um den toten Mangu weinte. »Sie können gehen und sich ein Hemd anziehen, wenn Sie wollen. Ich denke, ich kann Sie für ein paar Minuten entbehren.«
»Ich würde es vorziehen, noch eine Weile zu bleiben«, antwortet Schadrach. »Mir ist nicht kalt.«
»Wie Sie wollen.« Der Vorsitzende scheint das Interesse an ihm zu verlieren. Er wendet sich wieder Avogadro zu, um die Beratung über Verfolgungs- und Repressionsmaßnahmen fortzusetzen. Dann, nachdem er den Sicherheitschef entlassen hat, ruft er Eyuboglu zu sich und umreißt mit wenigen Stichworten ein Programm zur Kanonisierung des toten Mangu als eines Freiheitskämpfers und Helden der Revolution: ein kolossales Staatsbegräbnis, eine verlängerte Periode öffentlicher Trauer, die Umbenennung von Städten, bedeutenden Plätzen und Straßen, die Errichtung von Standbildern in jeder bedeutenderen nationalen Hauptstadt.
Warum? fragt sich Schadrach. Alles das für einen Mann, dessen große Leistungen allenfalls in der Zukunft zu erwarten gewesen wären? Der Aufwand an Energie und öffentlichen Mitteln wäre eines Halbgotts würdig, eines Cäsar, eines Augustus, eines Herakles oder Siegfried. Warum? Warum, wenn dieser Mangu nicht eine symbolische Fortsetzung Dschingis Khan II. Mao selbst gewesen wäre, sein Bindeglied zur Zukunft, seine Hoffnung körperlicher Reinkarnation? Ja, denkt Schadrach. Indem er diese grotesk aufgeblähten Trauerfeierlichkeiten für den Ermordeten befiehlt, muß der alte Mann nicht Mangu, sondern sich selbst betrauern.
10
Aber wurde Mangu wirklich ermordet? Avogadro, der in der Diele auf ihn wartet, als der Arzt seinen Schutzbefohlenen verläßt, scheint das nicht für eine ausgemachte Sache zu halten. Der Sicherheitschef, ein grobknochiger, schwerer Mann mit wachem Verstand, kühlen Augen und einem breiten, spöttischen Mund, nimmt Schadrach in der Nähe des Ausgangs beiseite und fragt mit gedämpfter Stimme: »Steht er unter dem Einfluß
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