Schadrach im Feuerofen
es tröstlich, zwischen den vertrauten Dingen zu sein, den Büchern, seiner Sammlung medizinischer Instrumente. Er schlendert zwischen den Regalen und Vitrinen und fühlt, wie sein Inneres allmählich zur Ruhe kommt. Er nimmt eine chirurgische Zange von der Form einer ellenlangen Pinzette zur Hand, die einmal zum Öffnen von Wunden diente. Denkt an Mangu, wie er zerschmettert auf den Terrazzoplatten liegt; verbannt den Gedanken. Betrachtet die einem Fuchsschwanz ähnliche Säge, mit der irgendein Chirurg des achtzehnten Jahrhunderts Amputationen vornahm. Denkt an Dschingis Khan II. Mao, wie er mit zornrotem Gesicht und einem bösen Glanz in den kleinen schwarzen Augen Massenverhaftungen befiehlt. Fragt sich, ob Massenexekutionen der nächste Schritt sein werden. Streichelt eine anatomische Puppe aus dem Bologna des fünfzehnten Jahrhunderts, einen eleganten Homunkulus aus Elfenbein. Der vordere Teil des Rumpfes ist abnehmbar und gibt den Blick auf kleine, sehr sorgfältig gearbeitete innere Organe frei: Herz, Lunge, Leber, die Eingeweide, und im Uterus kauert sogar ein Embryo wie ein Kängurujunges im Beutel. Und die Bücher, ja, die kostbaren, muffig riechenden Bücher, früher im Besitz berühmter Ärzte aus Wien, London, Paris. Valesco de Tarantas Philonium Pharmaceuticum et Cheirurgicum von 1509. Martin Schurigs Gynaecologia Historico-Medica von 1730, reich ausgestattet mit Einzelheiten über Defloration, Ausschweifungen, penis captivus und andere Wunder. Hier ist Die Cellularpathologie Rudolf Virchows von 1852, worin er propagiert, daß jeder lebende Organismus ein Zellenstaat sei, in dem jede einzelne Zelle ein Bürger ist, daß eine Krankheit ein Konflikt von Bürgern in diesem Staat sei, hervorgerufen durch die Einwirkung äußerer Kräfte. Aux armes, citoyens! Was hätte Virchow über verpflanzte Lebern und Lungen gesagt? Wahrscheinlich hätte er sie gedungene Söldner genannt: die Hessen der medizinischen Metapher. Wenigstens wird in den Zellkriegen fair gekämpft; da gibt es keine heimlichen Fensterstürze, keine Heckenschützen am Rand der Unterführung. Und dieses mächtige Buch: Grootdorn, Iconographia Medicalis, prächtige alte Kupferstiche – hier sind, in einer Darstellung aus dem sechzehnten Jahrhundert, die Heiligen Cosmas und Damian zu sehen, wie sie das Bein des toten Mohren auf den Stumpf des Krebsopfers verpflanzen. Prophetie. Eine Verpflanzung etwa um 500 n. Chr. posthum ausgeführt von den heiligmäßigen Chirurgen. Sollte ich jemals noch so einen Stich auftreiben, denkt Schadrach, werde ich ihn Warhaftig schenken.
Er verbringt eine halbe Stunde damit, die Krankenakte des Vorsitzenden auf den neuesten Stand zu bringen, diktiert einen Bericht über die Leberoperation und erwähnt den starken Erregungszustand des Patienten bei der Nachricht vom Tod des Stellvertreters. Eines Tages wird die Krankengeschichte Dschingis Khans II. Mao zu den medizinischen Klassikern gehören und in einem Atemzug mit dem Smith-Papyrus und der Fabrica genannt werden, und er müht sich gewissenhaft damit ab, um seinen Platz in der Geschichte seiner Kunst vorzubereiten. Gerade als er die Eintragung beendet hat, ruft Katja Lindman an.
»Kannst du zum Talos-Labor herunterkommen?« fragt sie. »Ich möchte dir unsere neueste Errungenschaft zeigen.«
»Ja, das interessiert mich. Hast du das mit Mangu gehört?«
»Natürlich.«
»Es scheint dich nicht sehr zu beunruhigen.«
»Warum sollte es das tun? Was war Mangu für uns hier? Er war die meiste Zeit abwesend. Jetzt ist die Abwesenheit abwesend. Sein Tod war ein größeres Ereignis als seine ganze Existenz.«
»Ich glaube, du tust ihm unrecht«, widerspricht er. »Er wäre einmal der Vorsitzende geworden, den die Welt braucht.«
»Ich wünschte, ich könnte deine Liebe zur Menschheit teilen«, sagt sie mit spöttischem Ton.
»Ich komme in einer Viertelstunde, Katja.«
Ihr Laboratorium ist einen Stock über Nicki Crowfoots Räumen im Ostflügel untergebracht, eine mit Kabelgirlanden verhangene und mit Elektronik vollgestopfte Werkstatt. Aus diesem chaotischen Irrgarten von Material kommt Katja Lindman mit ihrem gewohnten geschäftigen Schritt auf ihn zu. Sie trägt eine weiße Bluse, einen grauen, offenen Arbeitskittel und einen braunen Tweedrock. Der Effekt ist nüchterne Sachlichkeit; Katja Lindman ist keine Frau, die ihre Sexualität projiziert. Sie hat es bei Schadrach auch nicht nötig, denn sie hat eine ihm unheimliche körperliche Autorität über ihn, die
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