064 - Das Steckenpferd des alten Derrick
1
Mit dem Titel eines Dr. phil. und einem armseligen Rest aus der väterlichen Erbschaft, deren größten Teil er verstudiert hatte, verließ Dick Staines die Universität von Cambridge. Über die dringende Notwendigkeit, sich schnellstens eine Existenz zu schaffen, war er sich völlig im klaren. Einige Wochen lang schrieb er Offerten auf unzählige Inserate, und schließlich boten sich ihm vier Möglichkeiten an, die ersten Sprossen auf der Leiter zum Erfolg zu erklimmen: erstens, als Volontär in einer Autofabrik bekam er dreißig Shilling Wochenlohn; zweitens, als Volksschullehrer hatte er Aussicht, vielleicht nach zehn Jahren so viel zu verdienen, daß er einen eigenen Hausstand gründen konnte; drittens, als Offizier des königlichen Heeres oder der Marine mußte er zufrieden sein, wenn sich aus seinen Bezügen die monatlichen Kasinoschulden decken ließen; viertens, als - Polizeibeamter ... Nach gründlichem Erwägen dieser Möglichkeiten und Aussichten füllte er einen engbedruckten Fragebogen aus und sandte ihn an den Dezernenten für Polizeiangelegenheiten der Stadt London. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Wenige Wochen später finden wir Staines bereits in der kleidsamen blauen Uniform auf den Straßen der Metropole patrouillieren. Er war Polizeirekrut geworden, blieb es aber nicht lange. Seine Sprachkenntnisse - er beherrschte vier Sprachen von Grund auf und konnte sich in zwei weiteren verständigen - machten seine Vorgesetzten auf ihn aufmerksam. Als er dann noch das Glück hatte, ein Attentat auf den Kriegsminister zu vereiteln, war seine Laufbahn gesichert. Nach neun Jahren war er Kriminalinspektor. Wir begegnen ihm wieder, als er mit Lord Thomas Weald in dessen elegantem Rolls-Royce nach Brighton rast. Der schuldtragende Teil an der eklatanten Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit war jedoch, wie wohl selbstverständlich sein dürfte, der Lord.
»Es ist zum Schießen!« Weald kicherte und schenkte dabei der Landstraße nur geringe Aufmerksamkeit. »Vor ein paar Jahren - mir ist, als wäre es erst gestern gewesen - hat man uns beide wegen nächtlicher Ruhestörung auf die Polizeiwache von Cambridge geschleppt, und heute...« Er lachte auf. »Heute bist du selbst bei der Polente, Dicky!«
Sie waren während ihrer gemeinsamen Studienzeit gute Freunde geworden. Obwohl sie gleichaltrig waren, sah Tommy bedeutend jünger aus. Das ewig lächelnde Gesicht, das sorgenfreie Leben und seine unverwüstliche Laune ließen ihn noch heute als Jüngling erscheinen. Er hatte eine stattliche, breite Figur, reichte Dick aber nur bis zur Schulter. Dick Staines war unstreitig das, was man einen »schönen Mann‹ nennt. Seine Großherzigkeit und sein geradezu kindliches Gemüt, das er sich trotz seines Berufs bewahrt hatte, machten ihn allgemein beliebt. Er war, obwohl es an Anfechtungen nicht gefehlt hatte, bis jetzt ein standhafter Junggeselle geblieben. Seit Jahren hatten sich die Freunde nicht mehr gesehen. Tommy Weald war sofort nach Abschluß seiner Studien auf Großwildjagd gegangen und erst vor wenigen Tagen zurückgekehrt. Dick hatte ihn zufällig auf dem ›Strand‹ getroffen.
»Weißt du«, meinte Dick nach einer Weile, »ich bin eigentlich schön blöd - da kommst du Unglückswurm daher, und schon lasse ich mich auf eine deiner wilden Eskapaden mitschleppen! Statt mit dir in der Weltgeschichte herumzurasen, könnte ich meine wohlverdienten Urlaubstage geruhsam auf dem Landsitz meines Chefs verbringen. Ganz abgesehen davon, daß ich meine Wohnung während der Urlaubswochen aus Sparsamkeitsgründen vermietet habe. Wo soll ich nun, wenn ich von Brighton zurückkomme, in London wohnen?«
»Warum willst du dir jetzt schon den Kopf darüber zerbrechen?« Tommy musterte den Freund mit strengem Blick. »Du konntest doch gar nicht auf den hirnverbrannten Gedanken kommen, mich allein fahren zu lassen - oder doch? Jetzt, wo wir uns nach langen Jahren endlich einmal wiedersehen? Die Einladung deines Chefs gilt doch übrigens, wie du mir selbst erzählt hast, erst von nächster Woche an, nicht wahr? Und ich habe dir so viel zu erzählen, daß dir die Zeit wie im Flug vergehen wird. Du weißt doch, daß ich auf Löwenjagd war?« »Hast du sie - oder haben sie dich gejagt?« erkundigte sich Dick ohne Begeisterung.
»Wie du willst, lieber Sherlock Holmes. Seit wann bist du so verdrießlich und hypochondrisch? Brighton soll für derartige Gemütslagen sehr zu empfehlen sein. Deshalb fahre
Weitere Kostenlose Bücher