Schafkopf
Galaun hinauf. Der Weg knirschte unter den neuen Laufschuhen, kalte Herbstluft mit dem Aroma von Waldboden und harzigem Holz strömte in schnellen Zügen durch die Lungen, Schweiß netzte die Lippen und rann über die Augenbrauen. Oberschenkel und Waden waren geschwollen und hart, obwohl Kreuthner erst seit sieben Minuten unterwegs war. Der erste Anstieg gleich nach dem Parkplatz war der schlimmste Teil der Strecke. Hier musste man durchhalten. Ein Stechen in der Lunge und das kaltschweißige Gefühl auf der Stirn ließen Kreuthner das Tempo drosseln, wenngleich der Spielraum hierfür gering war. Noch ein wenig langsamer, und er würde auf der Stelle traben.
Kreuthner hatte sich hinreißen lassen, mit dem Sennleitner eine Wette abzumachen, derzufolge er, Kreuthner, innerhalb eines Jahres das Europäische Polizeileistungsabzeichen in Bronze machen musste, andernfalls hatte er nicht nur ein teures Entenessen in der Weißachalm auszurichten, er würde künftig auch bei der gesamten Polizei des Landkreises als Waschlappen dastehen. Der Abend, an dem man die Wette abgeschlossen hatte, war Kreuthner nur in Bruchstücken erinnerlich. Besonders der Teil nach dreiundzwanzig Uhr fehlte. Nicht hingegen fehlte es an Zeugen, deren Gedächtnis weitaus besser war, was möglicherweise damit zu tun hatte, dass alle an dem Abend Anwesenden auch beim Entenessen dabei sein sollten.
Er keuchte und verstand nicht, warum jede Bewegung schmerzte. Am Alkohol konnte es nicht liegen, denn Kreuthner hatte der leidigen Sauferei abgeschworen. Sechs Halbe am Abend und keinen Tropfen mehr! Da war er eisern. Vielleicht dauerte es einfach seine Zeit, bis sich die wohltätige Wirkung der Enthaltsamkeit dem Körper offenbarte. Nach dreizehn Minuten war Kreuthner am Limit. Doch jetzt wurde der Weg weniger steil, mit dem Versprechen, weiter abzuflachen. Dreizehn Minuten – so lange brauchten die Schnellsten vom Tegernseer Ruderclub, um ganz hinauf auf die Galaun zu rennen. Junge Burschen. Natürlich. Aber Kreuthner war auch erst siebenunddreißig und hatte nicht einmal die Hälfte des Weges hinter sich.
Als er nach achtundzwanzig Minuten am Wirtshaus ankam und sich eingestehen musste, dass er die Strecke mit einem zügigen Fußmarsch in ähnlicher Zeit zurückgelegt hätte, überkam Kreuthner Panik. Für das Abzeichen musste er dreitausend Meter im Gelände in weniger als fünfzehn Minuten laufen. Freilich, das Gelände würde flacher sein. Aber fünf Minuten für den Kilometer waren schon auf der Tartanbahn ein straffes Tempo und Kreuthner Lichtjahre davon entfernt. Er blickte zu dem kapellengekrönten Felsen auf, der sich hinter dem Wirtshaus hundertvierzig Meter in den Morgenhimmel erhob, und fasste den Entschluss, sich das Letzte abzuverlangen und noch auf den Riederstein hinaufzurennen. Rechts ging es auf einem Kreuzweg zur Kapelle.
Das erste Mal in seinem Leben vermochte er den Leidenspfad Jesu Christi mit Inbrunst nachzuempfinden. Die Tafeln am Wegesrand gemahnten ihn an die eigene Passion, und nur die Aussicht auf ein Weißbier hielt ihn am Laufen. An der sechsten Station reichte die Veronika Jesu das Schweißtuch; Kreuthner wischte sich mit dem Sweatshirtärmel das Gesicht trocken. Als der Heiland an der neunten Station zum dritten Male strauchelte, brachte eine hölzerne Stufe auch Kreuthner, dessen Oberschenkel taub geworden waren, fast zu Fall. An der zwölften Station starb Jesus am Kreuz, und Kreuthner fasste Hoffnung. Nicht weil die Erlösung der sündigen Menschheit ihn erbaute, sondern weil er irrtümlich annahm, der Kreuzweg habe zwölf Stationen, und sich bereits am Ziel wähnte. Tatsächlich hatte er noch zwei Stationen bis zur Grablegung vor sich und fuhr damit noch gut. Denn in neuerer Zeit waren Kreuzwege mit fünfzehn Stationen in Mode geraten, wo sie noch die Auferstehung zeigen. Als Kreuthner, inzwischen nur mehr Fuß vor Fuß setzend, denn der Bergpfad war zur steilen Holztreppe geworden, nach vorn blickte und sah, dass sein Weg noch nicht zu Ende war, wurde ihm elend ums Herz und auch im Magen. Aber er schleppte sich weiter, heftete seinen Blick nur noch auf die im Waldboden eingelassenen Holzbohlen. Eine nach der anderen glitt vorbei, gelegentlich vom Schweiß besprenkelt, der von Kreuthners Nasenspitze tropfte. Mit einem Mal wurde es heller, und er wagte wieder aufzusehen. Er war am Ziel.
Vor ihm die kleine Gipfelkapelle des Riedersteins, neben der aus nicht sogleich ersichtlichen Gründen ein Zehn-Liter-Fass Bier
Weitere Kostenlose Bücher