Schafkopf
stand. Um die Kapelle herum ein eisernes Geländer, dahinter, tief unten, der Tegernsee. Kreuthners schweißbrennende Augen konnten auf der anderen Seite des Sees das Hirschberghaus und die Aueralm erkennen. Die Hölle würde da los sein heute. Wie die Hunnen würden die Münchner einfallen und alles zusammensaufen, was man mühsam auf den Berg geschafft hatte. Das brachte Kreuthner darauf, dass ihn unten im Berggasthaus Galaun ein Weißbier erwartete.
Die Aussicht auf das Weißbier erschien überraschenderweise gar nicht so verlockend. Ganz flau war ihm im Magen. Er musste sich auf das Geländer stützen. Aus dem Augenwinkel sah er einen Mann mit roter Baseballkappe und gelbem T-Shirt, auf das eine Art Batman aufgedruckt war, an der Kapelle stehen. Das musste der Besitzer des Bierfasses sein. Der Bursche war groß, blond und muskulös, und als er Kreuthner das Gesicht zuwandte, sah der, dass es Stanislaus Kummeder war, ein grober Bursche, der selbst nach Kreuthners Maßstäben unmäßig soff und Schlägereien nur aus dem Weg ging, wenn er wirklich keine Zeit hatte. Kreuthner schickte Kummeder ein erschöpftes Kopfnicken. Der andere nickte zurück.
»Hast den Zimbeck überholt?«
Kreuthner schüttelte den Kopf und pumpte Luft in seine Lungen. Der andere wandte sich ab und schaute übers Geländer zum Wirtshaus hinab. Dann drehte er sich noch einmal dem Polizisten zu und sah ihn plötzlich feindselig an.
»Falcking – schon mal gehört?«, fragte Kummeder unvermittelt.
Ja. Hatte Kreuthner. War aber schon eine Weile her. »Der Anwalt?«
»Genau. Der weiß, was mit der Kathi passiert ist. Den müssts ihr euch mal vorknöpfen.«
»Müss ma des jetzt besprechen?«, stöhnte Kreuthner.
»Der weiß was! Und gnade euch Gott, wenn sich rausstellt, dass ihr das vermasselt habts.«
Kreuthner nickte gelangweilt und dachte an sein Frühstück mit Weißbier und Weißwürsten und süßem Senf, fingerdick auf die fette Wurst gestrichen. Da ihm zur gleichen Zeit die nasse Stirn kalt wurde, Punkte vor seinen Augen tanzten und sich im unteren Teil des Halses ein würgendes Gefühl einstellte, musste sich Kreuthner über das Geländer beugen, und den Bruchteil einer Sekunde später schoss ihm halbverdautes Müesli mit getrockneten Waldfrüchten durch den Rachen und klatschte auf die Felsen des Riedersteins. Kreuthner spuckte aus und wischte sich die Nase, durch die ebenfalls ein kleiner Teil des Mageninhalts seinen Weg nach draußen gefunden hatte. Das Gewürge hatte Kraft gekostet, aber jetzt war ihm wieder besser. Allerdings hatte er ein seltsam warmes Gefühl an seiner rechten Schulter. Er griff an die Stelle und hielt ein weißliches Stück Materie in der Hand, weich und glitschig, mit roten Schlieren. Und wie Kreuthner versuchte, seine Gedanken beisammenzubekommen, fiel ihm ein, dass er beim Würgen gemeint hatte, einen dumpfen Knall zu hören, allerdings eben sehr dumpf, weil ihm die Ohren zugegangen waren, als er den Unterkiefer so weit aufgerissen hatte. Auf dem Boden neben sich bemerkte Kreuthner etwas, das vor ein paar Sekunden noch nicht dagelegen hatte. Es erinnerte entfernt an ein Stück Kokosnussschale, nur waren keine braunen Fasern dran, sondern gelbliche Haare, und innen war die Schale rot verschmiert. Einen Meter weiter lag eine rote Baseballkappe. Eine Ahnung stieg in Kreuthner auf, gepaart mit Unglauben. Kreuthner drehte sich zu dem Mann um, der vorhin am Geländer gestanden war. Zuerst sah er ihn nicht, denn er stand da nicht mehr. Vielmehr sah Kreuthner die zum See gewandte Rückseite der Kapelle. Das Erscheinungsbild der schindelgetäfelten Wand hatte sich insofern verändert, als sich dort ein nass-roter Fleck von der Mitte trichterförmig nach rechts oben ausbreitete. Kreuthner senkte den Blick. Beine mit Sportschuhen kamen ins Bild, ausgestreckt auf dem Boden vor der Kapelle, im Anschluss an die Beine ein Oberkörper in gelbem T-Shirt. Ab dem Kragen bot sich ein sehr unerfreulicher Anblick. Kreuthner beugte sich über das Geländer und öffnete abermals den Mund, um die letzten im Magen verbliebenen Müeslireste dem Felsgestein zu übergeben.
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2 . Kapitel
M anfred war schon wach gewesen, als der Anruf kam. Er war jeden Tag um halb sieben auf, kochte Kaffee und heizte den Schwedenofen im Wohnzimmer ein, denn Wallner fror morgens noch mehr, als er es ohnehin den ganzen Tag tat. Wallner schlafe noch, hatte Manfred zu Kreuthner gesagt, aber er werde seinen Enkel gerne wecken. Der faule Socken
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