Schafkopf
und sich so unentwegt geküsst und aneinandergeklammert, dass es den Freunden schon zu viel war. Doch schnell kam der Alltag. Mit ihm die ersten Grobheiten, dann die erste Ohrfeige. Ein Jahr später waren Kathrin und Susi immer noch mit ihren Burschen zusammen. Aber die hatten sich mittlerweile als unbeherrscht und gewalttätig herausgestellt und ihre Mädchen mehrfach so geschlagen, dass sie ärztlich behandelt werden mussten. »The fairytale gone bad«, wie es im Lied hieß.
»Komm mit«, sagte Kathrin.
Susi überlegte eine Weile. Dann schniefte sie und schüttelte den Kopf. »Ich bin noch nie weiter als bis Sterzing gefahren.«
»Ja und? Du bist einundzwanzig. Dann machst mal was Neues.«
»Ich kann das net. Ich hab zu viel Angst.«
»Wovor?«
»Vor dem … Unbekannten.«
»Ist das schlimmer, als vom Peter geschlagen werden?«
»Ja«, sagte Susi mit Bestimmtheit und dachte an all das Unbekannte da draußen in der Welt, das ihr zustoßen konnte, und ihre Augen wurden ganz groß vor Entsetzen.
Kathrin ließ die Zigarette zu Boden fallen und drückte sie aus. »Weißt was?«
Susi schüttelte den Kopf.
»Ich hol dich nach, wenn ich in Berlin bin. Oder wo immer.«
Susi sah sie verunsichert an. »Dann gehst du wohin, wo du schon wen kennst. Dann ist es gar nimmer schlimm, verstehst?« Kathrin legte ihre Hände auf Susis Schultern, sah ihrer Freundin in die Augen und lächelte, soweit das die gebrochene Nase zuließ. Susi nickte schließlich.
»Ja. So machen wir’s.« Die beiden Frauen umarmten sich.
»Kannst mir a Geld leihen?«, sagte Kathrin, als sie sich aus der Umarmung gelöst hatten.
»Ich hab mein Trinkgeld gespart. Das sind neunhundert Euro.«
»Ich geb’s dir wieder, wenn du nach Berlin kommst. Okay?«
»Schon gut.«
Susi verschwand im Haus, wo ihr Freund Peter Zimbeck, der Inhaber der Gastwirtschaft, mit drei anderen Männern in der Wirtsstube Schafkopf spielte. Kathrin zündete sich noch eine Zigarette an. Ihre Nase pochte und begann stärker zu schmerzen. Die Wirkung des Mittels, das der Arzt ihr gegeben hatte, ließ nach. Als sie einen Augenblick innehielt und in die Nacht lauschte, meinte sie, ein Geräusch zu hören. Nur kurz, dann verschwand es und nur noch das Rauschen der Mangfall kam aus der Dunkelheit. Kathrin blickte durch die offene Hintertür ins Wirtshaus, um zu sehen, wo ihre Freundin blieb. Da hörte sie es wieder – das Geräusch. Diesmal war es näher. Es klang wie ein röhrendes Tier im Wald. Vielfach gebrochen hallte es durch die Nacht. Kathrin krampfte sich der Magen zusammen. Sie kannte das Geräusch, hoffte aber inständig, sich zu irren. Sie ging vor bis zur Hausecke, um besser hören zu können, was sich dem Wirtshaus näherte. Jetzt war das Geräusch so laut und klar, dass nicht der geringste Zweifel blieb: Es war das Röhren eines alten Saab Cabrio. Der Saab Cabrio des Stanislaus Kummeder, der sich dem Wirtshaus näherte.
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1 . Kapitel
D er Wirt der Aueralm, in gleicher Person auch Senner der Alm, blickte auf zum Morgenhimmel, der sich im Osten rosa färbte an diesem 4 . Oktober des Jahres 2009 . Abgesehen davon war der Himmel sehr blau und dunkel und ohne eine Wolke und kündigte einen dieser Tage an, wie es sie erst gab, seit sie die Ozonschicht kaputtgemacht hatten: mit so beißend klarem Licht und harten Farben, dass es einem vorkam, als habe jemand einen Filter vor die Landschaft gestellt, der alles Milde und Weiche aufzehrte und Schwarztöne zum Leben erweckte, wie die teuersten Plasmabildschirme sie nicht hervorbrachten. Im Norden hörte der blaue Himmel etwa auf der Höhe von Holzkirchen auf. Wie mit dem Lineal gezogen lauerte dort eine Wolkenwand darauf, nach Süden vorzustoßen. Weiter war der Föhn nicht gekommen, von dem der Senner hoffte, dass er stark genug sein und nicht im Verlauf des Tages zusammenbrechen und sich hinter die Grenze nach Tirol zurückziehen würde. Das hielten sie im Wetterbericht für möglich. Der Senner-Wirt sandte noch einen Blick in Richtung Hirschberghaus und Tegernseer Hütte. Auch dort würden sie jetzt Vorbereitungen treffen, um für den Ansturm gerüstet zu sein. Man würde Getränke einkühlen, Zapfanlagen prüfen, Vorräte zählen, Speisekarten schreiben und zum Herrgott beten, er möge die Bedienung bei Gesundheit erhalten – zumindest bis der Sonntag vorbei war.
Auf der anderen Seite des Sees, tief im morgendlichen Dämmer, joggte Polizeiobermeister Leonhard Kreuthner mit zähen Sprüngen den Weg zur
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