Der Himmel kann noch warten
ARM DRAN
Mek ist zu Besuch. Mit ihrer Mutter. Sie haben ein Buch mitgebracht.
»Hier«, sagt Mek. »Zum Lesen.«
Sie gibt mir das Buch. Es ist eingepackt. Ich lege es auf das Schränkchen neben mir.
»Willst du es nicht auspacken?«, fragt Mek.
»Lass doch!«, sagt ihre Mutter.
Mek erzählt, wie es in der Schule war und was ich alles versäumt habe. Sie erzählt schnell und mit vielen Worten. Müde macht mich das.
»Meggie!«, sagt ihre Mutter. »Jetzt lass mal gut sein!«
Meks Mutter kommt aus Amerika, da ist sie geboren. Sie spricht immer mit Ausrufezeichen.
Mek sagt nichts mehr. Ich auch nicht.
»Und wie geht es so?«, fragt Meks Mutter nach einer Weile. Wenn man gut achtgibt, hört man, dass sogar hinter ihrer Frage ein kleines Ausrufezeichen steckt.
Ich zucke mit den Schultern. »Mir ist schlecht.«
Meks Mutter nickt. Schlecht, das kann sie gut verstehen. »Ach, Beehbie!«, sagt sie, und noch einmal: »Ach, Beehbie!« Beim zweiten Mal fasst sie meinen Arm und schaut mich lange an.
»Ma!«, sagt Mek. Sie hat sich von ihrer Mutter ein Ausrufezeichen stibitzt. Weil sie eifersüchtig ist.
»Ach, tut mir leid!« Meks Mutter lässt meinen Arm wieder los. Sie schaut mich aber weiterhin an. In ihren Augen sehe ich, wie viel Mitleid sie hat, also schaue ich mir lieber ihre Stirn an. Doch es hilft nichts.
Du bist super arm dran!
, steht da. In großen, dicken Buchstaben. Genauso dick wie der amerikanische Akzent, in den sie ihre Ausrufezeichen einpackt.
»Sollen wir wieder gehen?«, fragt Mek.
Ich bin froh, dass sie fragt, und nicke ganz arm dran. Das kann ich nämlich gut, so nicken.
»Tschüss, Beehbie!«, sagt Meks Mutter. »Und wieder zunehmen, ja?«
»Tschüss, allerliebste Freundin!«, sagt Mek und fasst mich kurz am Arm. Etwas weniger fest als ihre Mutter. Aber trotzdem nicht angenehm.
Mek und ihre Mutter gehen aus dem Zimmer. Ich lese, was ihnen auf den Rücken geschrieben steht:
Du bist ja so arm dran!
, steht auf dem einen.
Du bist meine allerärmste Freundin!
, steht auf dem anderen.
»War das Meggie?«
»War
was
Meggie?«
Mama zeigt auf den Flur. »Im Fahrstuhl«, sagt sie. »Mit ihrer Mutter.«
»
Du
hast sie doch gesehen«, sage ich.
»Was?« Mama kapiert es nicht.
»Im Fahrstuhl.«
Diesmal begreift sie es. Sie ist einen Moment lang still. Das bin ich auch.
Dann sagt Mama: »Lieb, dass sie dich besuchen kommen, oder?«
Ich will nicht reden. Ich nicke. Als mein Kinn an meiner Brust ist, spüre ich, was gleich passiert. Es steckt mir schon im Hals.
»Alle denken an dich.« Mama möchte mich drücken, aber auch das will ich nicht.
»Übel?«, fragt Mama.
»Kotzen.«
»Oje! Ach, mein Mädchen!«
Ich schaue zu Mama. Zu ihren Augen.
Du bist meine allerärmste Tochter
, sagt ihr rechtes Auge.
Und ich habe nur eine
, sagt ihr linkes.
»Niere?«, fragt Mama.
»Niere!«, sage ich. Es ist mein erstes Ausrufezeichen heute. Ich mag keine Ausrufezeichen. Ich muss mich sofort davon übergeben.
»Ach, Mädchen! Mein Mädchen!« Mama legt einen Arm um mich und ich höre erst mal auf. Aber fertig bin ich noch längst nicht. Das fühle ich. Da ist noch mehr. Und das muss auch raus.
Harry kommt. Er bringt eine saubere Nierenschale. Und eine Tablette.
Eine Erinnerung. (Frisch in meinem Gehirn.)
Es war vor sieben Wochen. Nein, 53 Tagen. Krankenhaus. Aufwachzimmer. Ich hatte lang geschlafen. So wie Papa und Mama früher am Sonntagmorgen. Allerdings nicht nach einer acht Stunden dauernden Nacht, sondern nach einer neun Stunden dauernden Operation.
»Belle?«, fragte eine Frau in Weiß. »Bist du wach?«
Ich öffnete die Augen. Wer war das? Und woher wusste sie meinen Namen? Ich versuchte, in meinem Kopf alles auf die Reihe zu kriegen. Ich kam zu folgendem Ergebnis:
1. Die Operation ist schiefgegangen.
2. Ich bin jetzt tot.
3. Diese weiße Frau ist ein Engel.
4. Es gibt also doch einen Himmel.
Der Engel lächelte mich an. Ich solle noch ein wenig schlafen, sagte er.
Ich fragte, wo Gott wäre.
Der Engel zwinkerte mir zu und meinte, ich solle jetzt schön die Augen zumachen.
Ein paar Stunden später wachte ich richtig auf.
Mama sitzt auf ihrem Stuhl. Sie hat Meks Buch in der Hand.
»Auspacken?«, fragt sie.
»Okay«, sage ich.
Es ist ein Mädchenbuch. Mek mag Mädchenbücher.
»Schön«, sagt Mama.
»Ja«, sage ich.
Mama legt das Buch wieder auf mein Nachtschränkchen. »Lust auf einen Film?«, fragt sie.
»Okay.«
Mama schaltet den Fernseher ein. Ich kann nicht hinsehen.
Weitere Kostenlose Bücher