Schamland
in privaten Almosensystemen erschöpft, wird zivilgesellschaftliches Engagement nicht nur genutzt, sondern ausgenutzt. Mit diesem Buch ist daher eine Warnung verbunden. Es soll aber auch den Blick dafür schärfen, was es bedeutet, von der eigenen Gesellschaft aussortiert und an den unteren Rand gedrängt zu werden, dorthin, wo das eigene Leben als fremdbestimmt erfahren wird.
Das Material dafür liefern zahlreiche persönliche Begegnungen und Gespräche mit Nutzern von Tafeln und anderen existenzunterstützender Einrichtungen, die ich in den letzten Jahren bundesweit besucht habe. Daraus entstand eine detaillierte Analyse der Lebensrealität armutsbetroffener Menschen. Dieses Buch zeigt, dass der Preis für die dabei sichtbar werdende, weichgespülte Auffassung von Sozialpolitik hoch ist. Denn diese neigt immer mehr dazu, soziale Verantwortung an Freiwillige auszulagern und die Symptombehandlung von Armutsphänomenen an Agenturen wie Tafeln, Suppenküchen und Kleiderkammern zu delegieren. Hilfeleistungen werden hier nicht angeboten, weil die Empfänger ein Recht dazu haben – sondern aus karitativen Motiven, die einer eigenen Logik folgen, nicht aber die Bedürfnisse der Betroffenen im Blick haben. Da sich für die vielen Anbieter der Eigennutz der Hilfe immer wieder in den Vordergrund schiebt, bleiben die Hilfesuchenden oft genug auf der Strecke. In der Folge verwandelt sich unser Land in ein Schamland , in dem die Gewinner sich gegenseitig applaudieren, die Verlierer aber beschämt werden.
Während zahlreicher Podiumsdiskussionen und öffentlicher Veranstaltungen, zu denen ich als Experte zum Thema ›Tafeln und Armut‹ seit 2007 eingeladen wurde, fiel mir immer öfter auf, dass sich dort sehr selten diejenigen befanden, um die es eigentlich geht: die Armen. Mir gefiel überhaupt nicht, wie über eine gesellschaftliche Realität geredet wurde, von der die meisten der Anwesenden nur wenig Ahnung hatten. Das Wissen über die Armut stammte in aller Regel nur aus den Medien, die ihrerseits nur eine Oberfläche zu sehen bekamen. Armut ist Teil von Lebenswelten, zu denen man gerne auf sicherer Distanz bleibt. Immer offensichtlicher wurde, dass gerne über von Armut betroffene Menschen gesprochen wurde, nicht aber mit ihnen. In anderen Worten: Mir wurde immer klarer, dass in der Debatte über die Sinnhaftigkeit privater Hilfsformen (die ich zum Teil selbst mit angestoßen hatte) sowie über ›richtige‹ oder ›falsche‹ Strategien der Armutsbekämpfung eine zentrale Perspektive fehlte.
Diese Leerstelle störte mich im Laufe der Zeit so sehr, dass ich beschloss, die Perspektive der Armutsbetroffenen in diesem Buch konsequent in den Mittelpunkt zu stellen. Im öffentlichen Diskurs schoben sich – unmerklich, aber doch verlässlich – meist die ehrenamtlichen Helfer in den Vordergrund. Menschen, die versuchen, mit viel Engagement eine Arbeit zu leisten, die bis vor kurzem noch der Sozialstaat übernommen hatte. Die Helfer sind dabei mit der moralischen Pose ausgestattet, immer das Richtige zu tun; sie werden angetrieben vom Gefühl ihrer eigenen Wichtigkeit und sind vor Kritik durch ihre Lobby und das Lob aus der Politik weitgehend geschützt.
Gerade deswegen erscheint mir ein Perspektivwechsel dringend notwendig. Es ist an der Zeit, dass über den weniger bekannten Teil der Gesellschaft gesprochen wird. Es geht um die Gedankenwelt und Lebenswirklichkeit derjenigen Menschen, die arm sind inmitten unseres gemeinsamen Wohlstands. Ich wünsche mir, dass bedürftige Menschen nicht als Kulisse einer Bewegung missbraucht werden, die sich selbst immer ungehemmter selbst feiert. Diese Menschen sind keine Komparsen in einem Stück, das die tugendhaften Helfer in den Himmel lobt. Sie sind vielmehr die eigentlichen Hauptdarsteller.
Deshalb dieses Buch. Es ist verbunden mit der Hoffnung, dass das Bühnenstück von der »sozial gerechten Gesellschaft« in Zukunft unter einer vernünftigeren Regie aufgeführt wird als bisher. Von verantwortungsbewussten Menschen, die bereit sind, eine Perspektive einzunehmen, die Betroffene ernst nimmt, anstatt ihnen die eigene Sichtweise bevormundend auszureden. Wird dieser Perspektivwechsel vollzogen, dann wird eine neue gesellschaftliche Realität sichtbar, die für Millionen von Menschen Alltag ist. Denn der Staat trägt die Verantwortung für eine angemessene und menschenwürdige Versorgung der Armen, die ja auch Bürger mitten unter uns sind. Niemand sollte deren Wunsch, am
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