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Schamland

Schamland

Titel: Schamland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Selke
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Kapitel Der Chor der Tafelnutzer konzentriere ich mich ganz auf die Welt der Tafeln. Ich verbinde darin zahlreiche ­Gesprächspassagen zu einer kollektiven Schilderung eines Gangs zur Tafel und der dort gemachten Erfahrungen aus der Perspektive von ›Tafelkunden‹. Die beiden letzten Kapitel ­enthalten ergänzende Analysen zum Phänomen der Armut und zu den neuen Grenzen der Zivilgesellschaft. Im Kapitel Zurückbleiben, bitte! beschäftige ich mich mit den Folgen von Armut, der Sprache über Armut, dem Phänomen der Alters­armut, den neuen Armutsökonomien sowie den immer belieb­ter werdenden Armutsspektakeln. Anlässlich des 20-jährigen Bestehens der Tafeln in Deutschland fasse ich im Kapitel Nach dem Lob den Werdegang der Tafelbewegung zusammen und erläutere noch einmal kurz die Kernthese vom schleichenden sozialen Wandel und der Gewöhnung an Missstände als dem eigentlichen Skandal.
    In dieses Buch gingen also sowohl eigene Beobachtungen als auch Fakten und Analysen anderer ein. Ich weiß, dass ich mich mit den darin enthaltenden Schilderungen und Schlussfolgerungen in ein Minenfeld begebe. Aber so ganz an der ­Realität vorbei können meine Schlussfolgerungen nicht sein. Eines Tages erhielt ich eine Mail von einem Tafelnutzer mit folgendem Inhalt: »Sie sind einer der wenigen, der Armut in seiner Tiefe versteht. Ich bin selbst Betroffener und bin auf der Hartz- IV -Galeere angekettet, von daher weiß ich, wie es sich anfühlt, ein Galeerensträfling zu sein. Ich möchte Ihnen einfach nur danke sagen.«
    Das ist der Stoff, der mich antreibt.

II
Trostbrot
    Das Konto hat gesprochen
    Wo sonst ist die Welt noch in Ordnung? Arbeitslosigkeit ist hier ein Fremdwort. Gerhard Schröder sprach einmal im Bun­destag vom »Geist fleißigen Tüftelns« und einer »Mentalität der Standfestigkeit«, die in diesem »engen Tal im Schwarz­wald« zu finden seien. Er meinte damit Furtwangen, die Kleinstadt, in der ich lebe und arbeite. Eine Stadt, die nur deshalb so selbstbewusst mit ihrer charmefreien Funktionalität umgehen kann, weil sie von einer atemberaubend schönen Landschaft umgeben ist. Ausgerechnet hier, einem der letzten Orte in Deutschland, an dem es noch keine Tafel gibt, beginnt meine Reise ins Schamland.
    Der erste Besuch bei Tafelnutzern hat sich mir schon deshalb tief ins Gedächtnis eingegraben, weil er mich zu zwei meiner Studierenden führte. Für mich ist das ein Skandal. Wer als Studierender in einer Wissensgesellschaft zu einer ­Tafel gehen muss, fühlt sich gleich doppelt ausgegrenzt. Zum einen, weil die eigenen Mittel nicht reichen, das Nötigste im nächsten Supermarkt zu kaufen. Zum anderen, weil es mit den eigenen Teilhabechancen – dem Versprechen auf Arbeit, Anerkennung und Aufstieg – offenbar nicht so weit her ist wie gedacht. Nur ein paar Gehminuten entfernt von meiner Wohnung komme ich bei einem vor kurzem frisch renovierten mehrstöckigen Wohnblock an. Ein Spruch auf dem Zigarettenautomaten neben der Eingangstür zieht mich in den Bann: »Der sicherste Weg zum Ziel.« An dieser Stelle, der größtmöglichen Wunde, beginne ich meinen Bericht über die Armut mitten unter uns.
    Im fünften Stock öffnet mir eine schwangere junge Frau die Türe. Ich kannte sie bislang als Studentin aus einem meiner Seminare. Hinter ihr steht der Ehemann, ein wenig zögerlich und misstrauisch. Auch er ist Student, steht kurz vor dem ­Abschluss. Ich treffe zwei vorbildliche junge Menschen, die wissbegierig sind und sich gerade auf ihr zweites Kind freuen. Und trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, stehen sie am Rand der eigenen Gesellschaft. Eine Erfahrung, die schon erste Spuren hinterlassen hat. Sie laden mich freundlich in die perfekt aufgeräumte Wohnung ein. Ich bitte um ein Glas Wasser. Mit dem Satz »Das haben wir gerade noch«, geht der Student in die Küche. Wie viel Verbitterung, Verletzung und Zorn stecken wohl in dieser Aussage?
    Ich frage zuerst danach, wie die Tafel in ihr Leben gekommen ist. Später merke ich, dass jede Geschichte, die mir auf dieser Reise erzählt wird, immer mit einer Begründung beginnt, selbst wenn ich es nicht darauf anlege. So als müssten sich alle dafür rechtfertigen, arm zu sein. So als müssten alle zeigen, dass sie die Hilfe verdient haben, ihrer ›würdig‹ sind. So als müssten sich alle, die zur Tafel gehen, bei der Allgemeinheit entschuldigen. Dieses Bedürfnis, sich zu rechtfer­tigen, ist die unsichtbare Klammer um alle individuellen Erfahrungen, so

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