Schamland
gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, als »spätrömische Dekadenz« diskreditieren, wie Guido Westerwelle es 2010 prominent tat. 1 Stattdessen geht es in diesem Buch darum, in Zeiten grassierender Markttyrannei das Soziale im Interesse der Humanität zu verteidigen.
Für einen »Öffentlichen Soziologen« ist das eine Gratwanderung. Soziologie öffentlich und für die Öffentlichkeit zu betreiben, ist in letzter Zeit unmodern geworden. Kern meiner Öffentlichen Soziologie ist der Drang, mich in Debatten einzumischen und darin eine Haltung zu zeigen. Meine Soziologie ist eine wütende Wissenschaft. Sie ist nicht neutral, sondern interessegeleitet. Sie nimmt Anteil an den Sorgen der Menschen. Ich betreibe normativ engagierte Gesellschaftsforschung, die hoffentlich an manchen Stellen die Kraft hat, die herrschende Sprachlosigkeit zu beenden, weil sie die Sprache der Gesprächspartner ernst nimmt. Die Nationale Armutskonferenz 2 forderte in einem Positionspapier, dass Armen eine Stimme gegeben werden müsse. In diesem Buch kommen sie zu Wort. Da mein Ziel darin besteht, Soziologie öffentlich zu vermitteln, verzichte ich gerne auf die polierte Optik unnötiger Fachbegriffe. Ich versuche damit, den Beschränkungen komplizierter Sprachspiele zu entkommen, die Wissenschaftlichkeit lediglich suggerieren. Damit möchte ich vor allem dazu beitragen, die Enttäuschten und Ungeschützten wieder in die Mitte des gesellschaftlichen Diskurses zu rücken.
Ich vertrete dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die hier dargestellten Szenen und Skizzen sind winzige Mosaiksteine, die sich aber zu einem großen Bild der Gesellschaft zusammenfügen lassen. Damit folge ich einem vielfach an mich herangetragenen Auftrag. »Das System muss wissen, dass es beobachtet wird« – diesen Satz schrieb mir ein Journalist, der seinen Namen nicht veröffentlicht sehen möchte. In ähnlicher Weise gab mir ein Tafelnutzer zum Abschied nach einem Gespräch folgende Bitte mit auf den Weg: »Ich wünsche mir, dass Sie ganz genau hingucken.« Nicht mehr länger wegschauen, genau hingucken, um Zusammenhänge zu erkennen, Interessen aufzudecken und Gesellschaft zu verändern – darum geht es. Ich teile meine Beobachtungen mit Ihnen, um Lust darauf zu machen, selbst nachzudenken. Ich wünsche mir, dass Sie als Lesende Ihre eigenen Schlüsse daraus ziehen können. Denn Denken ist Widerstand gegen Informationen. Der Inhalt dieses Buches kann und soll kritisiert, aber auch als Gesellschaftsdiagnose ernsthaft geprüft werden.
Letztlich geht es darum, eine um sich greifende Blindheit für die soziale Misere zu vermeiden. Gerne zitiere ich die einzige Folge der TV-Serie Die Simpsons , die ich je gesehen habe: Homer Simpson verursacht eine Massenkarambolage auf dem Highway. Er schaut in den Rückspiegel und sieht, wie sich die nachfolgenden Autos ineinander verkeilen. Seine Reaktion darauf kann als Sinnbild für die zweifelhafte Gnade der kollektiven Selbsttäuschung verstanden werden. Homer sieht die Autowracks und dreht daraufhin den Rückspiegel ein wenig zur Seite. Im Spiegel erscheint nun ein friedlich grasendes Reh auf einer wunderschönen Lichtung. Genau dies darf nicht passieren. Soziale Verantwortung zu übernehmen bedeutet, den Rückspiegel der eigenen Wahrnehmung nicht dauernd so zu verdrehen, dass darin nur das sichtbar wird, was gerade erwünscht ist.
Dieses Buch ist ein exemplarischer Blick in den unverstellten Rückspiegel der eigenen Gesellschaft. Es zeigt die Hinterbühne eines reichen Landes und vermeidet dabei den beruhigenden Blick auf die liebliche Lichtung. Diesem Blick standzuhalten heißt nicht, in depressive Empörung zu verfallen. Vielmehr geht es darum, den Aufbruch in eine bessere Zukunft vorzubereiten. Denn eine Gesellschaft muss sich daran messen lassen, wie sie mit den Schwächsten umgeht. Neben der gesellschaftlichen Analyse stehen in den Kapiteln »Trostbrot« und »Der Chor der Tafelnutzer« die O-Töne von Armutsbetroffenen im Zentrum. Sie summieren sich hoffentlich zu einen hilfreichen Zeitdokument, das dazu beitragen kann, alle Beteiligten an einen Tisch zu holen – auch wenn dieser bei zukünftigen Diskussionen gehörig wackeln wird.
Wien, im Januar 2013
Reise zu den Unbekannten
Die Menschen, die ich in den folgenden Kapiteln des Buches in den Mittelpunkt rücke, bleiben sonst auf sonderbare Weise unsichtbar. Es handelt sich um Menschen, die Sie nicht persönlich kennen und deren Lebenswelt Ihnen –
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