Schandweib
so hatte er ihm auch Elisabeth entrissen, kaum dass Hinrich einmal nicht vor Ort war. Jetzt saß er hier in Hamburg und speiste in inniger Freundschaft mit dem Bruder des Prätors, unter dem Wrangel arbeitete, und drängte sich so in Wrangels neues Leben. Was würde er ihm hier wohl als Nächstes versuchen wegzunehmen?
Auf einmal versperrten zwei junge Männer in weinroten Samtjacken und hellen Kniebundhosen Wrangel die Sicht. Sie drängten durch die Schankstube auf die Ratsherrentische zu, kamen vor Michel Wilken zum Stehen und verbeugten sich leicht vor ihm. Wrangel konnte bei dem Lärm im Raum nicht hören, worüber sie mit Wilken redeten, aber als sie sich umwandten und zurückkamen, las er in ihren Gesichtern eine leichte Aufregung. Die beiden kamen ihm irgendwie bekannt vor. Sahen sie nicht aus wie die jungen Männer, die er dabei beobachtet hatte, wie sie einen Schuppen wässerten, während die Vincent-Bastion brannte? Er erinnerte sich plötzlich wieder an ihre auffallend roten Jacken.
Ein Mann am Tisch neben Wrangel musterte die beiden Männer abfällig, während er schmatzend sein Fleisch kaute.
»Wisst Ihr, wer die sind?«, fragte Wrangel seinen Nachbarn.
»Hm«, antwortete der und wischte sich mit dem Ärmel über den vor Fett triefenden Mund. »Das sind zwei Wilken’sche Kontorjungen. Vier beschäftigt er insgesamt, und alle kleidet er wie Lackaffen, weil er meint, dass das seinem Handelshaus mehr Ansehen gebe. Dabei kennt das Kontor sowieso jeder in der Stadt, ist es doch das einzige, das auch in diesen harten Zeiten des dänischen Embargos Kaffee und Zucker verkauft – und sogar Pulver kaufen kann.«
Dann schaute der Mann Wrangel abschätzend an. »Ihr seid wohl kein Kaufmann, was?«
»Nein, ich bin Advocatus und Prokurator am Niedergericht.«
Sein Nachbar zog die Brauen hoch. »Und da setzt Ihr Euch hier in diese Ecke, in der die glücklosen Kaufleute ihr karges Mal nach einem schlechten Handelstag möglichst ungesehen zu sich nehmen?
»Nun, glücklos kann man auch als Advocatus sein und an einem schlechten Tag lieber ungesehen speisen.«
Sein Nachbar verzog die Miene zu einem schrägen Grinsen und hob dann seinen Bierkrug. »Auf dass wieder bessere Tage kommen mögen. Prost!«
Mittwoch, 8. Dezember 1701
53
A ls die Turmuhr von St. Katharinen drei Uhr schlug, klopfte Wrangel an die Tür des Vikars.
Claussen musterte ihn erstaunt. Noch nie war Wrangel zu ihm nach St. Katharinen gekommen, und nun sogar an einem Tag, an dem sie sich für gewöhnlich sowieso am Nachmittag zum Kaffee am Kattrepel trafen. Aber Wrangels unruhige Züge verrieten ihm sofort, dass sein Freund einen triftigen Grund für diesen Besuch haben musste.
»Wrangel, mein Freund, welch eine Überraschung! Seid willkommen und tretet ein in mein bescheidenes Heim.«
»Danke, Claussen, aber ich will Euch keine Umstände machen. Ich dachte lediglich, wir könnten gemeinsam einen Spaziergang zum Kattrepel machen und dabei etwas ungestörter reden.«
»Das ist ein guter Vorschlag, zumal bei diesem herrlichen Winterwetter. Wer weiß schon, wann dieser trockene Frost in nasskalten Schneeregen übergehen wird? Kommt herein, ich will nur schnell meinen Mantel holen.«
Keine fünf Minuten später waren die beiden jungen Männer auf dem Weg hinaus aus der Stadt zum Grasbrook . Kaum hatten sie die engen Gassen und das Grasbrook Tor passiert, als Wrangel eine lederne Mappe unter seinem Mantel hervorholte und sie Claussen reichte.
»Was ist das?«
»Das ist die Verteidigungsschrift, die ich für das Mannweib, Ilsabe Bunk, verfasst habe. Wilken hat sie nur lächelnd durchgeblättert. Noch nicht einmal lesen wollte er sie. Der Prätor scheint sich nicht mehr für das Recht der gefangenen Inquisiten zu interessieren. Stattdessen foltert er sich ihm genehme Aussagen herbei.«
Claussen schlug die Mappe auf und überflog die in Wrangels akkurater Handschrift geschriebenen Seiten. »Das ist eine gut argumentierende und stichhaltige Verteidigung. Haben die aufgeführten Zeugen schon einer Aussage zugestimmt?«
Wrangel verzog das Gesicht. »Nein. So wenig wie der Prätor meine Ausführungen überhaupt lesen wollte, so wenig wollten sich die Zeugen an die Vorgänge erinnern. Selbst der Ratsapotheker Kirchhoff, der mir noch vor zwei Wochen ausführlich erläuterte, warum es überaus unwahrscheinlich ist, dass nur der Kopf der Toten zu Medizin verarbeitet wurde, hat nun schriftlich beim Prätor eine Aussage hinterlegt, die dessen
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