Schandweib
Urteilsfindung vorgesehen sind.«
»Aber diese Vorgaben sind barbarisch, Claussen, und das wisst Ihr genauso gut wie ich. Die Folter dient nicht der Gerechtigkeit, sondern verschafft jenem einen Vorteil, der sie für seine Interessen einsetzen kann. Das hat weder etwas mit Recht noch mit Gerechtigkeit zu tun.«
»Was sich in den Hörsälen der Universitäten und aus dem Munde Eures geschätzten Thomasius gut anhört, lieber Wrangel, und was die Realität in der Gesellschaft fordert, sind zwei Paar Stiefel Aber lasst uns zugehen, sonst schließt noch das Sandtor vor unserer Nase und wir müssen die Wachen teuer bezahlen Nur strenge Ordnung hält die Menschen im Zaum. Glaubt Ihr vielleicht, die Kirche wäre noch existent, wäre sie immer nur barmherzig? Auch uns Kirchenmännern obliegt es, darüber zu wachen, dass der Sünder bestraft wird zum Wohle jener, welche die Sünde meiden und das Gemeinwohl fördern. Nur eine Ordnung, die jedem seinen festen Platz zuweist, lässt das gemeinsame Leben gedeihen. Das geltende Recht, zu dem nun einmal die peinliche Befragung gehört – mag man sie auch verabscheuen –, verhilft uns zu dieser Ordnung. Die höhere Gerechtigkeit hingegen mögen wir Gott überlassen. Er wird richten über die Lebenden und die Toten und unseren Mangel an Einsicht mit seiner Weisheit ausgleichen. Vertraut auf Gott, Wrangel, und schützt die Ordnung, die uns erst in die Lage versetzt, sein Lob zu singen.«
Die beiden Männer schritten aus und passierten das Sandtor, das sie auf die Kehrwiederspitze führte. Von dort aus öffnete sich ein herrlicher Blick über den Hafen, in dem unzählige Schiffedicht an dicht im silbern glitzernden Wasser vertäut lagen und mit ihren abgeriggten Masten einem lichten Wald glichen. Die Hafeneinfahrt war mit Hunderten, wenn nicht sogar Tausenden Baumstämmen vor den dänischen Kriegsschiffen geschützt. Allein in den letzten vier Wochen hatte der Rat noch einmal fünfhundert Bäume in Duvenstedt schlagen und über die Alster hinunterflößen lassen. Der so errichtete Baumwall war ein seit Jahrhunderten bewährtes Mittel, um angreifende Schiffe vom Hafen fernzuhalten.
Das Abendrot leuchtete schon über der Stadt, als Wrangel und Claussen endlich am Kattrepel eintrafen und ihre durchgefrorenen Glieder mit einer Tasse Kaffee aufwärmten.
Das Kaffeehaus war berstend voll, und die Leute redeten erregt durcheinander. Wrangel war froh, dass Claussen und er unter diesen Gegebenheiten ihr Gespräch nicht fortsetzten. Er musste erst einmal in Ruhe über Claussens Worte nachdenken, vor allem, was Bunk betraf. Denn an seiner unerschütterlichen Einstellung zur Folter konnte auch sein Freund nichts ändern. Aber die Triebfeder der Rache und des Hasses machte ihm zu schaffen, ahnte er doch, dass er sie selbst tiefer in sich trug, als ihm recht sein mochte.
Die beiden Männer hatten ihre Kaffeetassen noch nicht bis zur Hälfte geleert, als Moses Abelson aus dem hinteren Teil des Kaffeehauses auf sie zukam und sich ohne große Umschweife zu ihnen setzte.
»Verehrter Prokurator Wrangel, ich freue mich sehr, Euch wieder wohlauf zu sehen. Eine schreckliche Sache, die Euch da passiert ist. Ich hoffe, man wird die Verbrecher fassen, die über Euch herfielen.«
»Danke, Herr Abelson, für Eure Anteilnahme. Ja, es geht mir schon wieder besser, zumindest, was meine Gesundheit betrifft.Aber ich mache mir wenig Hoffnung, dass man die Kerle finden wird, zumal ich mich selbst kaum an etwas erinnern kann.«
»Sagt, Herr Abelson, was ist passiert? Die Leute reden so aufgeregt an allen Tischen, als stünde Großes bevor«, hakte Claussen ein.
»Ob Großes bevorsteht, muss sich noch zeigen, aber die Nachrichten, die heute hier eintrafen, sind nicht erfreulich. Der russische Zar scheint sich bestens von seiner Niederlage gegen Karl XII. zu erholen. Er soll wieder mit Friedrich IV. in Verhandlungen getreten sein, und auch Sachsens Kurfürst, August der Starke , der ja ebenfalls König von Polen ist, scheint nicht zu zaudern, erneut mit den Russen und Dänen gemeinsame Sache gegen die Schweden zu machen. Hamburg muss aufs höchste um die Wahrung seiner Neutralität besorgt sein, damit wir nicht zwischen Sachsen und Dänen aufgerieben werden. Heute aber kursierte an der Börse das Gerücht, dass der russische Zar Peter bereits seit einem knappen Jahr mit Hamburger Geld über London seine bei Narwa verlorene Artillerie kontinuierlich ersetze. Dazu soll er sein Offizierskorps mit
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