Schatten Der Versuchung
Gasthof bringen.« Sorgenvoll betrachtete er den Mond und die Wolken, die über den Himmel wirbelten und teilweise das Mondlicht verdeckten. Es war offensichtlich, dass er nicht gern umkehren würde. Er schüttelte die Zügel, damit das Pferd schneller lief.
Auch Natalya starrte zum Himmel hinauf und bemerkte die düsteren Wolken, die vor einigen Minuten noch nicht da gewesen waren. Die dichten Nebelschwaden, die über den Berggipfeln hingen, schienen wie bleiche Knochenhände nach dem Mond und dem Wald zu langen. Ein Blitzschlag überzog die Ränder der Nebelwand mit goldenen Lichtbögen. In der Ferne grollten Donnerschläge. Über den Bergen schien sich ein Gewitter zu entladen.
Natalya schob eine Hand in ihre Fellweste und berührte den Griff ihrer Pistole. »Das Wetter hat heute Abend schnell umgeschlagen.« Und dieser Umschwung hatte keine natürliche Ursache.
»So ist es nun mal in den Bergen«, bemerkte der Bauer und schnalzte mit der Zunge, um sein Pferd anzutreiben. »Am besten geht man in Deckung, bis sich alles wieder beruhigt hat.«
Natalya gab keine Antwort. Sie musste auf den Berg. Hatten Spione ihre Feinde davon verständigt, dass sie in der Nähe war? Wurde sie schon erwartet? Sie wandte ihre Aufmerksamkeit der Landschaft zu, die rasch vorbeizog. Bewegte sich dort im Schatten etwas? Falls es so war, musste sie den Bauern beschützen. Sie hatten das Dorf weit hinter sich gelassen und befanden sich mitten in dem weitläufigen Hügelland mit seinen vereinzelten Gehöften.
Sie blieb wachsam und achtete scharf auf Anzeichen eines drohenden Angriffs, indem sie alle ihre Sinne schärfte, um Informationen zu sammeln. Mit einem Atemzug nahm sie die Nachtluft tief in ihren Lungen auf und entschlüsselte die Geschichten, die ihr der Wind zutrug. Der Wind brachte den Gestank des Bösen mit. Das leise Rascheln im Wald. Den Geruch von Wölfen, die rastlos im Mondlicht umherstreiften. Natalya hob ihr Kinn. Es war so weit. Sie hatte es nicht auf einen Kampf abgesehen. Normalerweise war sie diejenige, die sich zuerst zurückzog, aber sie hatte es satt, verfolgt zu werden, satt, jede Minute des Tages über die Schulter zu schauen. Wenn die anderen einen Kampf wollten, konnten sie ihn haben. Sie war vorbereitet. Dieses Mal würde sie keinen Rückzieher machen.
Der Bauer bog in einen schmalen Feldweg ein. Als das Pferd langsamer wurde, um die scharfe Kurve zu nehmen, sprang Natalya ab und winkte dem Mann im Gehen zu. Er rief ihr etwas nach, doch sie ging einfach weiter und marschierte mit schnellen Schritten bergauf in Richtung Baumgrenze.
Sowie sie sicher war, aus der Sichtweite des Bauern zu sein, zog sie den bunt gemusterten Rock und die Bluse aus, faltete die Sachen und das Kopftuch zusammen und verstaute alles in ihrem Rucksack. Die Amis-Stöcke kamen in Schlaufen an ihrem Gürtel, wo sie jederzeit griffbereit waren. Natalyas ganzes Auftreten veränderte sich, als sie nach dem vertrauten Wanderstock langte. Mit grenzenlosem Zutrauen zu sich selbst huschte sie über die Felder, indem sie zwischen den Heugarben hindurchschlüpfte, bis sie ein gutes Stück von den Bauernhöfen entfernt war. Ein Pfad führte den Berg hinauf, eher für Ziegen als für Menschen geeignet, aber Natalya nahm ihn, weil es der direkte Weg war.
Sie durchquerte ein Feld mit blühenden Wiesenblumen und kämpfte sich durch wogende Gräser immer näher an den Wald heran. Der Mond wurde fast völlig von den immer dunkler werdenden Wolken verdeckt, und je näher sie dem Wald kam, desto lauter hallten die Donnerschläge. Blumen und Gräser wichen Büschen und Sträuchern. Hier und dort ragten auf dem Abhang große Felsbrocken auf. Einige zähere Blumen hatten es geschafft, in den Felsspalten Wurzeln zu schlagen. Die Bäume waren klein und knorrig, aber nach zwei weiteren scharfen Kehren veränderte sich die Vegetation völlig und wuchs dichter und höher.
Natalya hatte die Karpaten gründlich studiert. Sie wusste, dass der Gebirgszug einer von Europas größten Lebensräumen für Fleischfresser und die Heimat von Braunbären, Wölfen und Luchsen war. Die Berge erstreckten sich über sieben Länder Mitteleuropas, und die dichten Wälder waren die letzten Refu-gien für Europas seltene und vom Aussterben bedrohte Vogelarten und größere Raubtiere. Obwohl in den Gebieten um die Karpaten viele Menschen lebten, gab es dort weite Landstriche, die immer noch wild und unberührt waren.
Natalya blieb stehen, um den dichten Wald zu überprüfen, der
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