Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
seien verzogen, sie könne es nicht lange aushalten mit ihnen. Irgendwann hatte sie gesagt, sie kenne Leute, deren Ehen bestimmt nie scheitern würden. Jetzt fiel ihm ein, letztes Weihnachten hatte sie angefangen, über Familie und Kinder zu sprechen, so ganz nebenbei, absichtslos vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Als sie den gemeinsam bereiteten Entenbraten aßen, Heiligabend. Stachelmann hatte ihre Gedanken dünnlippig weggeredet, also schnell etwas gefunden, das an Annes Ideen anknüpfte, aber gleich wegführte, zu eigenen Erinnerungen an schreckliche Familien mit schrecklichen Kindern, wohlgemerkt keinen Einzelkindern, deren Welt trotzdem eingegrenzt war auf einen Radius von drei Metern um die eigenen Bauchnabel. Er erinnerte sich an ihre Blicke, als er das sagte, so eher nebenbei, wo doch mitklang, dass sie sich auch über etwas anderes unterhalten könnten. Dann hatten sie erst einmal eine Zeit gar nichts mehr gesagt. Felix hatte geschrien, sie mühten sich, ihn zu beruhigen. Später hatten Anne und Felix Weihnachtsgeschenke ausgepackt, sie hatte Stachelmann geküsst, um sich zu bedanken, er hatte sie geküsst, um sich zu bedanken. Dann waren sie müde und ein wenig angetrunken ins Bett gegangen, am Morgen sprachen sie über vieles, nur nicht über das, was sie am Abend zuvor auch nicht beredet hatten.
Aber ein paar Wochen später fing sie wieder an, redete von ihrem Lebensentwurf, ohne ihn auszumalen. Doch es war klar, er sah nicht vor, dass es so weitergehen könne wie bisher. Warum nicht, fragte sich Stachelmann. Es war gut, wie es war. So ist es im Leben doch selten, und wenn es gut ist, sollte man nichts ändern. Aber er widersprach nicht, sagte eher nebulös, er müsse über dieses und jenes nachdenken, sie nickte verständnisvoll, aber nicht ohne zu zeigen, sie erwarte etwas von ihm.
In der U-Bahn war es heiß. Er fuhr bis zum Stephansplatz und stieg um in die Metro-Bus-Linie 5, die ihn zum Dammtor brachte. Von dort lief er zum Philosophenturm und fuhr mit dem, je nach Kunstverständnis, bemalten oder beschmierten Aufzug nach oben. In seinem Dienstzimmer staute sich die Hitze, er riss das Fenster auf. Ein warmer Wind ließ Blätter von seinem Schreibtisch fliegen, aber er beachtete es nicht. Er legte Ossis Ordner auf den Beistelltisch, der damals den Berg der Schande getragen hatte, all die ungelesenen Akten für seine Habilschrift, und beschwerte den Deckel mit einem Buch. Er schaute auf die Uhr und sah, er hatte noch eine gute halbe Stunde Zeit. Das reichte nicht, um eine Seminararbeit zu korrigieren, so stellte er den PC an. Nachdem der hochgefahren war, entfernte er Müllmails und mögliche Viren aus dem Eingangspostfach und fand nur eine Nachricht, die ihn interessierte. Sie war von Carmen. Die Rechtsmedizin habe einen vorläufigen Befund, der noch überprüft werden müsse. Erfahrungsgemäß aber träfen vorläufige Befunde meistens zu, deshalb informiere sie ihn kurz. Ossi habe ein starkes Schmerzmittel namens Tramal genommen und sich dann ein neuartiges Insulinpräparat, ein Spray, in die Nase gespritzt. Eine Überdosis, die ihn rasch getötet habe. Die Spurensicherung habe ein Insulinspray gefunden auf dem Schreibtisch. Sie hätten es genau untersucht und entdeckt, dass die Sprayöffnung erweitert worden sei, mit einer Nadel oder Ähnlichem. So sollte sich offenbar die Dosis vergrößern beim Sprühen, aber das könne nicht funktionieren. Aufgefallen sei sonst nichts außer einer schwachen Rötung an der Schläfe. Sie hätten auch keine Spuren gefunden, die nicht von Ossi oder ihr stammten. Offenbar habe niemand Ossi besucht, schon gar nicht sei jemand in die Wohnung eingebrochen. Es sehe alles nach Selbstmord aus. Dagegen spreche nur, dass ein Abschiedsbrief fehle, und vielleicht auch die Rötung an der Schläfe. Diese aber könne man sich leicht holen, wenn man beispielsweise seinen Kopf anstoße. Warum Ossi keinen Abschiedsbrief geschrieben habe, werde sein Geheimnis bleiben. Er sei nicht der erste Selbstmörder, der schweigend abtrete. Sie müsse sich damit abfinden und ihre Schuldgefühle verdrängen. Vielleicht könnten sie sich bald wieder treffen, um zu reden. Ihr würde es helfen. Wenn er Ossis Akten gelesen habe, möge er sie bitte zurückgeben. Taut würde trotz der eindeutigen Lage gerne hören, was Stachelmann von diesen Unterlagen halte.
Der Befund überraschte ihn nicht. Er beantwortete aber die Frage nicht, warum Ossi sterben wollte. Er muss verzweifelt gewesen sein. Ob
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