Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
Demonstrationen und Blockaden der Gleise im Chaos geendet hatten. Die linken Gruppen fielen übereinander her, die Studenten widerte es an. Auf dem Flugblatt stand unten handschriftlich Jossi.
»Warum hat er das hingeschrieben? Das ist doch Ihr Spitzname?«
Stachelmann nickte bedächtig. Er überlegte. »Ich hab das wohl geschrieben«, sagte er. Er nahm das Blatt vom Stapel und legte es mit der Vorderseite zuunterst neben den Ordner. Die Rückseite war nicht bedruckt. Er erinnerte sich, es war dieses labbrige Papier, die billigste Sorte, die sie durch die Wachsmatrizendruckmaschine gezogen hatten. Das Papier saugte die Farbe gut auf, bei glattem schmierte sie. Auch das nächste Flugblatt handelte von der Fahrpreiserhöhung, aber Ossi hatte nichts draufgeschrieben. Dann ein handschriftliches Protokoll mit dem Datum vom 3. Mai 1977, Auswertung der revolutionären Maidemo, entzifferte er. Ossi hatte eine grauenhafte Schrift, nach links geneigt, die Buchstaben eng aneinander, manche teilweise übereinander. Es folgten einige Punkte, unter denen Erfolge abgebucht wurden. Mehr Teilnehmer als 1976, oder Eindeutige revolutionäre Parolen. Negativ wurde erwähnt: Immer noch Unklarheiten über den Charakter der RAF-Genossen Leute in Stammheim. Genossen war durchgestrichen. Unklarheiten eben. Er musste grinsen.
»Was ist?«, fragte Carmen irritiert.
»Nicht wichtig«, erwiderte er. »Es erinnert mich nur an meine Dummheit. Manchmal könnte ich darüber weinen, manchmal nur lachen. Heute grinse ich.« Er blätterte weiter. An vieles erinnerte er sich. Manche Papiere waren vor seiner Zeit in Heidelberg erschienen. Maoisten prügelten auf Kommunisten ein, Kommunisten auf Maoisten. »Warum hat er dieses Zeug ausgegraben? Das wird ja nicht all die Jahrzehnte auf dem Schreibtisch gelegen haben?«
»Nein, ich kenne es nicht, habe es nie gesehen. Bedeutet es etwas?«
»Es bedeutet nur, dass Ossi sich in seiner letzten Stunde damit beschäftigt hat. Ein Indiz für Freitod.«
»Aber es fehlt ein Abschiedsbrief«, sagte Carmen. »Die meisten Selbstmörder wollen den Hinterbliebenen etwas erklären. Ich hätte gerne eine Erklärung, und ich glaube, er wusste es. Das ist ein Indiz gegen Selbstmord.« Sie klang sachlich, aber Stachelmann hörte, sie war den Tränen nah. Auch weil sie gekränkt war. Weil Ossi nicht an sie gedacht hatte.
»Vielleicht kann man diesen Ordner als eine Art Abschiedsbrief verstehen. Ich habe meine glücklichste Zeit in Heidelberg verlebt, danach kam nichts Gutes mehr. Entschuldigung.«
Aber Carmen wehrte ab. »Wenn es so sein sollte, dann muss ich es aushalten.«
»Sie müssen mir die Frage jetzt nicht beantworten. Sie und Ossi, Sie waren so richtig ein Paar?«
»Ja, irgendwie schon. Wir haben das natürlich für uns behalten. Sie hätten einen von uns sonst versetzt. Und den letzten Schritt habe ich von Ossi nicht erwartet.« Sie schniefte. »Da hat immer etwas gestanden zwischen uns. Er hat mich nicht wirklich nah an sich herangelassen, niemanden.«
»Vielleicht weil er fürchtete, dass Sie sich von ihm trennen, wenn Sie mehr über ihn erfahren. Er war kein Ausbund von Selbstsicherheit, obwohl er so tat.«
Sie dachte nach. »Dann war es gar nicht gegen mich gerichtet. Er hatte Angst vor sich selbst.«
»Ja. Das befürchte ich.«
»Darf ich Sie duzen?«
»Wenn ich es auch darf. Meine Eltern haben mir den schrecklichen Namen Josef gegeben. Den Zweitnamen verschweige ich, der ist geradezu peinlich.«
Sie lächelte. »Maria«, sagte sie.
»Wenn Sie ... Entschuldigung, du diesen Namen benutzt oder mich Jossi nennst, dann beantrage ich die Wiedereinführung der Prügelstrafe für diese Form der Beleidigung.«
»Hab's verstanden.« Sie lachte leise und wischte sich eine Träne aus dem Auge. Der Unsinn tat ihr gut. »Danke«, sagte sie und streichelte fast unmerklich den Rücken seiner Hand, die auf dem Papierstapel lag. »Er hat so oft von dir gesprochen. Das zeigte, wie unglücklich er war, weil er nicht erreicht hat, was er erreichen wollte.«
»Noch ein Indiz für Freitod«, sagte Stachelmann.
Sie antwortete nicht.
»Was überlegst du?«
»Ob er in letzter Zeit eine Andeutung gemacht hat, die ich als Signal hätte verstehen müssen. Ob ich etwas überhört oder übersehen habe.«
»Ich glaube, das fragen sich alle Leute in so einer Lage. Mach dir keine Vorwürfe, es ist sinnlos. Im Nachhinein findet man immer etwas, das man hätte besser machen können.« Er fuhr sich mit der Hand durch die
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