Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
ohne weiteres eine Stiefmutter und einen Stiefbruder im Teenageralter akzeptiert?
Wahrscheinlich hatte sie tief in ihrem Inneren immer gewußt, daß nichts und niemand das Band zwischen ihr und ihrem Vater zerreißen konnte.
Nichts und niemand, dachte sie nun, außer ihrer Mutter, die sie für tot gehalten hatte.
Sie kämpfte sich durch den dichten Berufsverkehr zu dem palastähnlichen Landsitz in Potomac, Maryland. In ihr stritt der Schock über den Betrug ihres Vaters mit einer
kalten, nagenden Wut. Sie war ohne Mantel aus ihrem Apartment gestürzt und hatte nicht einmal die Heizung in ihrem Spitfire aufgedreht, doch sie spürte die Kälte des Februarabends kaum. Die innere Erregung hatte ihr Farbe ins Gesicht getrieben und ihre porzellanbleichen Wangen rosig überhaucht.
Kelsey trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad, während sie an einer Ampel wartete und ihre ganze Willenskraft darauf konzentrierte, das rote Licht zum Umspringen zu bewegen. Ihre von Natur aus vollen Lippen waren schmal und weiß vor Zorn.
Es brachte nichts, sich mit quälenden Gedanken zu zermürben. Besser, sie dachte gar nicht daran, daß ihre totgeglaubte Mutter am Leben war und nur eine knappe Stunde von ihr entfernt in Virginia lebte. Wenn sie jetzt darüber nachgrübelte, müßte sie wahrscheinlich laut schreien.
Aber als sie die von majestätischen Bäumen gesäumte Straße, in der sie ihre Kindheit verbracht hatte, entlangfuhr und in die Einfahrt des dreistöckigen, im Kolonialstil erbauten Hauses, in dem sie aufgewachsen war, einbog, zitterten ihre Hände.
Das Haus strahlte die Ruhe und den Frieden einer Kirche aus, die Fenster blinkten, die Fassade leuchtete in makellosem Weiß. Kleine, gekräuselte Rauchwolken, die von einem abendlichen Kaminfeuer zeugten, stiegen aus dem Schornstein empor, und die ersten Krokusse kamen zaghaft neben der alten Ulme in vorderen Hof aus dem Boden hervor.
Ein perfektes Haus, inmitten einer perfekten Nachbarschaft, hatte sie stets gedacht. Eine Oase des guten Geschmacks, geschützt und unantastbar, nur wenige Autominuten von Washington, D.C., mit seinem reichhaltigen Angebot an Kultur und Zerstreuungsmöglichkeiten, entfernt. Und mit dem sorgfältig gepflegten Image respektablen Wohlstands.
Kelsey sprang aus dem Wagen, lief zur Vordertür und stieß sie auf. In diesem Haus brauchte sie nicht vorher zu
läuten. Als sie durch die in Weiß gehaltene Halle stürmte, kam Candace aus einem Zimmer.
Wie üblich war sie untadelig gekleidet. In ihrem konservativen blauen Wollkleid bot sie das perfekte Bild einer Akademikergattin. Das hellbraune Haar trug sie aus der Stirn gekämmt, und in den Ohrläppchen schimmerten schlichte Perlenohrringe.
»Kelsey, war für eine nette Überraschung! Ich hoffe, du bleibst zum Essen. Wir erwarten Gäste, einige Kollegen von der Universität, und ich kann immer Hilfe . . .«
»Wo ist er?« unterbrach Kelsey sie schroff.
Verblüfft über den barschen Tonfall zuckte Candace zusammen. Kelsey hatte offenbar wieder eine ihrer Launen. In einer Stunde würde sie das Haus voller Gäste haben, und das letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war einer der berüchtigten Wutausbrüche ihrer Stieftochter. Unwillkürlich wich sie ein Stück zurück.
»Stimmt etwas nicht?«
»Wo ist Dad?«
»Du bist ja ganz außer dir. Wieder Probleme mit Wade?« Candace winkte ab. »Eine Scheidung ist zwar unerfreulich, Kelsey, aber noch lange kein Weltuntergang. Komm setz dich erst mal.«
»Ich will mich nicht setzen, Candace. Ich will mit meinem Vater reden.« Ihre Hände verkrampften sich. »Also sagst du mir jetzt, wo er ist, oder muß ich ihn suchen?«
»Hi, Schwesterchen!« Channing schlenderte die Treppe herunter. Sein Äußeres war ebenso wie das seiner Mutter, doch seine Abenteuerlust hatte er nach Meinung seiner Mutter nicht von ihr. Obwohl er bereits vierzehn war, als Candace Philip Byden heiratete, hatten seine Gutmütigkeit und sein Sinn für Humor die Situation sehr erleichtert. »Was ist los?« fragte er.
Kelsey zwang sich, tief durchzuatmen, um nicht loszubrüllen. »Wo ist Dad, Channing?«
»Der Prof. hat sich mit dem Vortrag, an dem er gerade feilt, in seinem Arbeitszimmer vergraben.«
Channing hob die Augenbrauen. Auch ihm entgingen
die Anzeichen aufkeimender Wut nicht – die blitzenden Augen, die glühenden Wangen seiner Stiefschwester. Manchmal versuchte er in solchen Fällen die Wogen zu glätten, manchmal goß er sogar noch Öl ins Feuer.
»Hey, Kel, du willst
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