Schatten über Sanssouci
Wahres
hervorzubringen.« Sie sah Quantz an, und er fragte sich, ob ihre Worte eine
mehr oder weniger verhohlene Kritik an seinen Kompositionen sein sollten. Denn
seine Arbeit ging ja in großer Geschwindigkeit vonstatten, musste so schnell
vonstattengehen, denn er war den Befehlen des Königs vollkommen unterworfen.
»Beziehen Sie das
nicht so sehr auf sich«, sagte Amalia, als hätte sie seine Gedanken gelesen.
»Alle Musiker an einem Hof oder an einer Kirche sind dem Zwang ausgesetzt,
schnell komponieren zu müssen. Auch Herr Bach. Wie ich höre, schreibt er Woche
für Woche eine ganze Kantate für den Gottesdienst. Aber trotzdem erhebt er sich
über die alltäglichen Pflichten und dringt wie ein Wissenschaftler, der eine
Expedition in unbekannte Regionen unternimmt, ständig in neue musikalische Gebiete
vor. Er arbeitet alle Facetten des Themas aus, bereichert es, schafft bisher
Ungehörtes – und das in einer perfekten Harmonie, die wie die ewige Mathematik
des Universums eigenen, schwer fassbaren Gesetzen gehorcht. Können Sie mir
folgen, mein lieber Quantz?«
»Selbstverständlich,
Eure Königliche Hoheit, jedoch … erlauben Sie mir eine Frage. Herr Bach
hat das Thema bearbeitet? Er hat daraus ein Werk geschaffen? Warum hat der
König niemals etwas davon gesagt? Oder hat Herr Bach es dem König nicht
vorgelegt?«
»Er hat, lieber Herr
Quantz. Und wie er hat. Sehen Sie dies.« Sie hielt ihm das dicke Notenheft hin.
Es war gedruckt, und auf der Titelseite prangte in wunderschöner Schrift ein
Titel: Musicalisches Opfer . Außerdem eine Widmung: Regis Iussu Cantio Et Reliqua Canonica Arte Resoluta .
Quantz raffte sein Latein zusammen. Sinngemäß stand da: Ein
auf königlichen Befehl geschriebener musikalischer Satz und andere in der Kunst
des Kanons gehaltene Stücke .
»Sie können es gern
durchblättern, Herr Quantz. Aber vorsichtig. Es ist das einzige Exemplar, das
wir haben.«
Quantz nahm das Heft
und sah es sich an. Es genügten ein paar Blicke auf die Seiten, um zu erkennen,
was es enthielt. Der alte Bach hatte in äußerst kunstvoller Arbeit das Thema,
das ihm der König vor einem Jahr gestellt hatte, zu einem Wunderwerk
ausgearbeitet. Er hatte nicht nur die verlangte sechsstimmige Fuge komponiert,
sondern noch eine ganze Reihe anderer Stücke in verschiedener Stimmenzahl und
Besetzung dazu geschrieben. Darunter befand sich auch eine große Sonate in vier
Sätzen, besetzt mit Flöte, Violine und Cembalo mit Bassstimme – also gedacht
für Seine Majestät selbst, Graun und Bachs Sohn. Carl Philipp Emanuel Bach
hatte das Thema als subtile Rache an seinem Vater dem König untergeschoben.
Weil er seinen Vater, den übermächtigen Meister des Kontrapunkts, hatte
scheitern sehen wollen. Doch Johann Sebastian Bach hatte gesiegt. Wusste Amalia
wohl von dieser Intrige?
»Mein Bruder hat
Herrn Kantor Bach noch nicht einmal für diese Gabe gedankt«, sagte die
Prinzessin. »Er weiß es nicht zu schätzen. Es trifft nicht seinen Geschmack.
Der König hat mir das Heft schicken lassen, weil er meine jüngsten Ambitionen
kennt.«
»Ihre jüngsten
Ambitionen, Königliche Hoheit? Welche wären das? Sie sind doch in der Musik
bereits gut ausgebildet.«
»Nicht gut genug,
mein lieber Herr Quantz. Im Gegensatz zu meinem Bruder beabsichtige ich nicht,
mich mit klingenden Galanterien im italienischen oder französischen Geschmack
abzugeben, wie sie – verzeihen Sie – auch Ihrer Feder entfließen. Mir ist an der
Kunst des Kontrapunkts gelegen. Dieses Werk vom alten Bach hat mir die Augen
und die Ohren geöffnet. Diese Perfektion, diese Harmonie – es ist die Sache
wert, dass jemand die Grundlagen dieser Kunst erforscht. Daher bin ich auf der
Suche nach Männern, die diese Forschungsarbeit leisten können. Mit anderen
Worten: Ich baue einen musikalischen Kreis auf, der sich mit diesen Künsten
befassen soll. Wer weiß? Vielleicht wird das Fach der Wissenschaft der Musik
eines Tages Teil der Königlichen Akademie der Wissenschaften und an
Universitäten gelehrt? Noch zieht mein Bruder es vor, eigenartigen
französischen Tiersammlern oder Maschinenmenschen in seinen wissenschaftlichen
Einrichtungen das Sagen zu überlassen, aber das kann sich ja ändern.«
»Warum laden Sie
nicht Herrn Bach aus Leipzig persönlich ein? Er wird Ihnen alle Geheimnisse
dieser Kunst beibringen können.«
»Herr Kantor Bach
ist alt und krank. Seine Sehfähigkeit lässt nach, bald wird er ganz erblinden.
Er kann nicht mehr reisen.
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