Schattenauge
– eine anonyme, verpixelte Gestal t –, wie ich auf dem Bahnsteig Anlauf nehme, ebenfalls auf den Zug springe und auf das Dach klettere – gerade noch rechtzeitig vor dem Tunnel. Verwackelte Aufnahmen, die das Ganze wie einen halsbrecherischen Stunt aussehen lassen.
Ich muss mich immer noch daran gewöhnen, mich nicht mehr zu ducken und umzuschauen, wenn ich ein Gebiet betrete, das früher strikte Revierzone war.
Und auch daran, dass Zoës Mutter mich nicht leiden kann. Sie nennt mich nur abfällig »dieser Nomade« und macht Zoës Liebe zu mir dafür verantwortlich, dass die Dinge sich für sie so drastisch geändert haben. Nun, mein Mitleid hält sich in Grenzen. Sie ist schließlich nicht die Einzige, die mit den Veränderungen klarkommen muss.
Zoë trainiert wieder mit Paula und hat große Pläne. Von uns zwei Sehern bin ich der Vorsichtige und sie die Visionärin. Sie hätte Rubio sicher gefallen. Die Freundin, bei der wir Leon abgegeben hatten (Ellen), gehört wieder zu ihrem Leben, aber dennoch verbringt sie mehr Zeit mit Paula. Vielleicht liegt es daran, dass Ellen wieder mit diesem Pseudo David zusammen ist, aber ich glaube eigentlich nicht, dass es der einzige Grund ist. Es ist wohl eher eine Frage der abgestreiften Larvenhüllen. Manche Dinge kann man zwar kitten – heil werden sie jedoch nicht mehr. Oder vielleicht ist die Zeit für sie einfach vorbei. So wie unsere Bruderschaft mit Gizmo. Seit dem Zusammentreffen beim Schlachthof haben wir nicht mehr miteinander gesprochen. Er hat seinen Keller wieder hergerichtet und zieht es vor, sein eigenes Ding zu machen. Manchmal bedauere ich es, dass das Kleeblatt auseinandergefallen ist. Aber auch Gizmo hat seinen eigenen Weg.
Es ist nicht einfach, sich daran zu gewöhnen, dass zwischen Zoë und Irves nach wie vor dieser Gleichklang ist, eine Schnittmenge an Musik und Emotionen. Ich frage nicht, wie oft sie bei ihm im Aufnahmestudio sitzt. Manchmal ziehen wir zu dritt durch die Clubs, oft genug aber ist Zoë mit Irves allein unterwegs.
Auch heute, als sie mitten in der Nacht über das Dach durch das Fenster klettert und in mein Bett kriecht, riecht sie nach Beats und Colanebel und dem metallischen Staub der Lautsprecherboxen.
»Hallo Panther«, flüstert sie mir ins Ohr und küsst mich, während ich noch dem letzten Traum nachhänge. Doch ihre Nähe genügt, um mich aus jedem Traum in die Wirklichkeit zu holen. Ich ziehe sie an mich und umschließe ihr Gesicht mit meinen Händen. Sie lacht, als ich mit den Lippen über ihre Lider streife, die Stirn und ihren Mund. Der warme, lächelnde Schneewittchenmund, den ich so liebe.
»Warst du im Exil?«, flüstere ich ihr zu.
»Erwischt«, antwortet sie leise. »Neue Musik von Irves. Mit Maschinensound-Effekten. Du musst sie hören, sie ist gut!« Sie lacht und küsst mich und ich schließe die Augen und lasse mich treiben. Ich weiß nicht, wohin uns all das führt, aber als ich Zoë umarme und mit ihr dem Gesang der Stadt lausche, erkenne ich, dass ich tatsächlich glücklich bin. Rubio hatte Recht, als er sagte, wir seien nicht so gefangen, wie ich dachte. Eigentlich ist alles ganz einfach: Ich bin der Seher, es ist meine Stadt, und das ist der Kodex:
Töte nicht.
Sei wachsam.
Alles andere liegt an uns.
Autoreninfo
Nina Blazon gilt als Meistererzählerin fantastischer und historischer Romane, die mehrfach ausgezeichnet wurden. Sie wuchs in Neu-Ulm auf und studierte Germanistik und slawische Sprachen. Danach unterrichtete sie an mehreren Universitäten und absolvierte ein Redaktionsvolontariat. Heute lebt sie mit ihrem Mann in Stuttgart und arbeitet als freie Journalistin und Schriftstellerin.
Impressum
Als Ravensburger E-Booker
schienen 2010
Die Print-Ausgabe erscheint im
Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH©
2010 Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH
Alle Rechte dieses E-Books
vorbehalten durch
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ISBN 978-3-473-38393-1
www.ravensburger.de
ebook Erstellung - Juni 2010 - TUX
Ende
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