Wald-Schrat
1 – Forrest
»Na Faun, wie wär’s mit uns, hm?«
Forrest Faun rieb sich den Schlaf aus den Augen und blickte von seinem Baum hinab. Unten stand eine hinreißende Nymphe mit allen typisch nymphischen Attributen: Sie hatte ein hübsches Gesicht, wallendes Haar, eine makellose Figur und, was vielleicht am wichtigsten war, keinerlei Kleidung. Und doch: Irgendetwas stimmte nicht ganz mit ihr.
»Wie meinst du das?«, fragte er und arbeitete sich aus Traum und Astgabel hoch. Er war immer noch nicht ganz wach.
»Sperr die Augen auf, dann begreifst du schon, Faun! Komm runter und hasch mich, sowas macht ihr Faune doch normalerweise mit uns Nymphen.«
Jetzt begriff er. »Aber du bist keine Nymphe!«
»Ach, bah!«, fluchte sie und zog einen Schmollmund. Dann löste sie sich in Rauch auf und erschien als aufdringlich gekleidete Dämonin neu. »Ich bin D. Mentia und will tun, was ich immer so treibe: Unheil stiften, während meine bessere Hälfte sich an ihren abscheulichen Mutterpflichten ergötzt. Wie bist du mir auf die Schliche gekommen, du Waldschrat?«
»Wenn ich es dir verrate, gehst du dann fort?« Forrest wusste, dass es normalerweise möglich ist, Dämonen dadurch loszuwerden, dass man einen Handel mit ihnen schließt.
»Ja, wenn du das möchtest…« Ihr leuchtend gelbes Kleid wurde durchscheinend und ließ mehr als nur die Umrisse ihres Körpers ahnen, und wenn man genau hinsah, glaubte man sogar einen verruchten Pantysaum zu erblicken.
Also gab es einen Haken. »Weshalb sollte ich das denn nicht?«
»Weil ich fürchterliche Neuigkeiten habe, die dich verwirren und bestürzen werden und womöglich sogar deine komplette Weltsicht ändern könnten.«
Nun gut. Das klang tatsächlich nach einem vernünftigen Grund. Forrest, mittlerweile hellwach, sprang vom Baum und landete geschickt auf seinen Hufen.
»Dein Verhalten hat dich verraten. Du warst viel zu unnympho… unnymphisch, viel zu zielstrebig und intelligent. Die Anziehungskraft einer echten Nymphe besteht zu einem beträchtlichen Teil aus ihrer scheinbaren Zurückhaltung und ihrem Mangel an Intelligenz. Und worin bestehen nun deine entsetzlichen Neuigkeiten?«
»Folge mir.« Mentia wirbelte herum, indem sie ihren Leib zu einer engen Spirale verdrehte, bis ihr Gesicht in die entgegengesetzte Richtung zeigte, und dann den Rest hinterherschnellen ließ. Eilig schritt sie davon. Ihr Rock schrumpfte dabei, um so viel von ihren Beinen zu entblößen, wie es nur möglich war, ohne dass man sah, wohin sie mündeten. Allerdings achtete Forrest auch nicht besonders darauf, denn nichts von einer Dämonin kann als wahrhaftig gelten.
Sie führte ihn zu einem Baum auf der anderen Seite der Lichtung. »Sieh selbst.«
Entsetzt blickte Forrest den Pantinenbaum an. Er welkte; hin und wieder löste sich eine Pantine von den Zweigen und fiel zu Boden.
Das konnte nur eines bedeuten: Der Baum hatte seinen Geist verloren.
Nun war aber der Geist ausgerechnet dieses Pantinenbaums ein enger Freund Forrests. Er hieß Waldi Faun. Forrest und er kannten einander seit fast zweihundert Jahren; ihre Bäume standen in Sichtweite voneinander. Fast jeden Tag sprang Forrest von seinem Sandelbaum und gesellte sich auf der Lichtung zu Waldi, um dort die eine oder andere Polka zu tanzen. Mit ein wenig Glück erregte ihr Tanz zumindest kurzfristig die Aufmerksamkeit einer, zweier oder dreier Nymphen, die sich prustend vor Lachen daran beteiligten. Und an besonders guten Tagen mündeten Polka und Prusterer in ein munteres Haschmich mit anschließender Feier.
Doch heute Morgen war Waldis Baum in einem beklagenswerten Zustand, und das konnte nicht nur daran liegen, dass der Faun abwesend war. Faune wie Nymphen waren ihrer jeweiligen Bäume ununterbrochen gewahr und umgekehrt, sodass sie auf der Stelle wussten, wenn dem anderen etwas Schlimmes zustieß. Wenn ein menschlicher Holzfäller mit einer Axt sich einem solchen Baum auch nur näherte, erlitt der Faun einen Krampf. Stieß ein Faun sich den Huf an, erbebte sein Baum. Entfernungen spielten dabei keine Rolle: Ein Faun konnte sich weit von seinem Baum entfernen und blieb trotzdem eng mit ihm verbunden. Musste der eine Schmerzen erdulden, spürte der andere es sofort.
»Versuchst du etwa mich zu ignorieren?«, fragte Mentia drohend. Dämoninnen können so gut wie alles ertragen, nur eines nicht: dass man ihnen keine Beachtung schenkt.
»Nein. Du hast Recht. Aber von diesem furchtbaren Anblick bin ich ganz bestürzt und verwirrt.
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