Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
ganzlangsam aus. Er hält den Kopf gesenkt und sieht mich nicht an, tippt mit dem Fuß gegen einen Stein, der, von Gras überwachsen, halb im Boden steckt. Ob er mich fragt? Mir sagt, wann wir uns wiedertreffen? Wo ich ihn finde? Er kann doch nicht einfach so aus meinem Leben verschwinden, jetzt, wo ich weiß, dass es ihn gibt.
«Hör zu, Luisa! Ich weiß, dass du glaubst, es sei zu schwer. Versprich es mir trotzdem!» Und dann, als ich schon denke, er ist fertig, als ich ihn schon anschreien will, fragen, warum er wieder davon anfängt, fragen, was er denn für eine Ahnung davon hat, wie verdammt weh das Leben tun kann, hebt er seinen Blick und sagt ganz leise: «Bitte!»
Er sieht nicht aus, als würde er oft um etwas bitten. Es ist dieses «Bitte», das meine ganze Abwehr auflöst. Ein einziges Wort.
«Ich verspreche es», sage ich feierlich und meine es als einen Schwur. Der schwerste Schwur von allen: Er verschließt mir meine Tür aus dem Leben. Nimmt mir meinen Notausgang. Von diesem Moment an muss ich alles, was noch kommt, ertragen. Und vielleicht ganz allein.
Er schließt kurz die Augen, seufzt erleichtert und nickt. «Danke», flüstert er. Dann schiebt er mich aus dem Wald hinaus zur Asphaltstraße. «Geh nach Hause, Luisa», sagt er. «Geh nach Hause und lebe!»
«Seh ich dich wieder?» Die Antwort muss ich nicht abwarten. Ich kann sie in seinem Gesicht lesen. Sehe sie an der Art, wie er mich loslässt, mich von sich wegschiebt, als dürfe uns niemand zusammen sehen. Wie er hastig zurückweicht zwischen seine Bäume, als von rechts ein Auto auftaucht.
«Besser nicht!», sagt er, fast schon im Umdrehen. Dannläuft er. Die Bäume scheinen an ihm zu ziehen wie Magneten an einem Eisensplitter. Muss er sich verstecken? Vielleicht braucht er den Wald, den Schutz, die Stille noch viel mehr als ich.
«Wie heißt du?», rufe ich ihm nach, schnell, bevor er für immer verschwunden ist.
Er bleibt noch einmal stehen, als müsse er überlegen. Sieht über die Schulter. «Ich – bin Thursen!», trägt der Regen mir zu. Dann ist er im Unterholz verschwunden. Ob dort sein Hund auf ihn wartet?
DREI
Hier in Berlin haben wir kein Haus. Zu hastig war unser Aufbruch, zu überstürzt unsere Ankunft. Unsere Familie ist zu einem Rest zusammengeschrumpft. Vielleicht ist dieser Rest auch zu klein für ein Haus geworden, und deshalb leben wir in einer Wohnung. Drei Zimmer und ein Balkon, den keiner von uns benutzt, weil wir alle den Sonnenschein nicht mehr ertragen können, meine Eltern noch weniger als ich. Über uns wohnt eine gebrechliche alte Dame, die Lärm nicht verträgt. Wie gut für sie, dass wir ganz still vor uns hin leben, als seien wir schon tot. Man hört uns nicht. Unter uns wohnt eine Familie mit einer kleinen Tochter und einem Baby. Ein Lebensende über uns und unter uns der neue Anfang. Das Baby schreit oft.
Das Mädchen ist eigentlich gar nicht so schlimm. Sie heißt Lotti. Ich kenne sie kaum, gehe ihr aus dem Weg. Ich kann mit so kleinen Kindern nichts anfangen.
Das ist die pflegeleichte Lüge, die ich erzähle. Die Wahrheit ist: Ich kann keine Spielsachen mehr ertragen. Ich möchte schreien, wenn ich im Hof ihr Kinderfahrrad sehe, das aussieht wie seins. Sie sitzt auf der Bank und spielt mit ihrem Gameboy. Der gleiche, den mein Bruder hatte. Es ist, als hätten wir seine Spielsachen zwar tief im Müllcontainer begraben, doch aus dem Grab kommen sie als untote Gespenster zurück. Ich ertrage es nicht. Nicht mal Schreien hilft. Nicht einmal meine Eltern anschreien und mit Tassen auf die Bilder an der Wand werfen. Das Glas splittert. Das Porzellan splittert. Mein Schmerz bleibt. Ich verfluche Thursen, der mir meinen Ausweg genommen hat. Genommen, ohne mir einen anderen Weg zu geben.
Mein Alltag ist mir zu eng. Warum muss ich zur Schule gehen? Warum muss ich all die fröhlichen Leute auf der Straße treffen? Warum muss unter meinem Fenster Lotti spielen? Warum zwingt man mich anzusehen, was ich nicht sehen will? Es ist, als müsste ich meine Hand in ein Wespennest halten, täglich tausend schmerzhafte Stiche ertragen. Es wird Zeit, dass ich wieder Bahn fahre, gleich nach der Schule. Ich will nicht nach Hause, ich muss weg von alledem, ich muss in den Wald. Heute will ich schneller sein und nehme den Bus, die Havelchaussee entlang. Dann steige ich doch zu früh aus, weil ich die Enge der schaukelnden Kiste nicht länger ertrage. Zu Fuß folge ich dem Wanderweg hinunter zum See.
Das Wetter ist besser.
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