Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
ausgeschlagen. Das ganze Zimmer stank nach Erdbeersahne und Kerzenwachs. Ich habe meine Tasche gepackt, und dann bin ich in die Schule.
Das Leben tut mehr weh als ein offenes Geschwür. Das ist der wahre Grund, warum ich hier auf der Brüstung stehe, nur einen Schritt von meinem eigenen Ende entfernt.
Und dann ist da plötzlich dieser Junge. Ich drehe mich vorsichtig zu ihm um, er passt seinen Griff an, aber er lässt nicht los. Fast als wäre ich ein gefangener Vogel, der sonst davonfliegen würde. Jetzt kann ich ihn ansehen. Ist er noch ein Junge oder schon ein Mann? Kaum älter als ich sieht er aus. Wahrscheinlich wäre er einen halben Kopf größerals ich, wenn wir nebeneinanderstünden. Er ist eingehüllt in einen knielangen schwarzen Mantel. Den Kragen hat er hochgestellt, vielleicht gegen die Kälte, aber vielleicht auch gegen viel Schlimmeres. Von hier oben, von der Brüstung, wirkt er fast zerbrechlich. Trotzdem spüre ich die Kraft seiner schmalen Hände, mit denen er meinen linken Arm gepackt hält, wie eine Klammer aus Stahl. Sein Griff drückt mir das Blut ab, sodass meine Hand anfängt zu kribbeln. Er sieht zu mir hoch, angespannt, als versuche er in meinen Augen zu lesen, was ich vorhabe. Dunkelgraue, fast kinnlange Strähnen fallen in sein schmales, blasses Gesicht. Kann man so eine Haarfarbe überhaupt haben? Sie ist nicht wie das Grau der Wannsee-Omis, die rund um den Bahnhof ihre Hunde Gassi führen, gepflegt und mit perligem Glanz. Seine Haare sind krähengrau. Mit seinen dunklen Schattenaugen sieht er wie ein Mangaprinz aus.
Als er sicher zu sein scheint, dass ich nicht kämpfen werde, zieht er mich am Arm zu sich. Ich kämpfe nicht, nicht jetzt, nicht heute. Viel zu gebannt bin ich von ihm, der so plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht ist. Ich beuge die Knie, bis ich auf Augenhöhe mit ihm bin, unsicher springe ich von der Brüstung zurück auf die Plattform. Beim Landen verliere ich das Gleichgewicht, knicke mit dem linken Fuß weg, stolpere, aber er fängt mich auf. Schnell wie ein zupackendes Tier hat er beide Hände an meinen Oberarmen. Auch diesmal hält er mich. Er sieht mich immer noch an, stumm. So nah steht er vor mir, dass ich ihn atmen hören kann und sogar die kleinen dunklen Punkte in seinen grauen Augen sehen. Er riecht nach Wald.
«Versprich mir, dass du das nicht wieder versuchst!», sagt er. Seine Stimme ist leise und so rau, dass ich mich frage, wie lange er nicht gesprochen hat. Der Klang lockt eineGänsehaut auf meinen Rücken. Es ist auch lange her, dass jemand mit mir gesprochen hat. Mit mir gesprochen und nicht an mir vorbei, ausweichend, als könnte man meinen Blick nicht ertragen.
Es tut so gut. Ich lächle ein wenig und auch er lächelt. Sein Lächeln kommt mir vor wie ein schmaler Sonnenstrahl, der nach langem Regen über den nassen Boden huscht. Ein Hauch Frühling nach dem Winter. Zu wenig, sich daran zu erwärmen, aber mit Hoffnung auf mehr.
Als würde er jetzt erst merken, dass wir, als Fremde, viel zu nah beieinanderstehen, verwischt sein Lächeln, und er macht einen Schritt rückwärts. Langsam lockert er den Griff um meine Arme, als müsste er jeden seiner Finger einzeln überreden. Seine geöffnete rechte Hand gleitet meinen Arm hinunter und umschließt meine Finger, ohne dass ich zugreife. Soll ich? Sein Blick hält mich fest. Das ist kein Händchenhalten, er ist auf dem Sprung, bereit, noch einmal zuzupacken. Denn noch hat er mein Versprechen nicht. Er wartet, dass ich wenigstens nicke.
Ich will nicht. Er kennt mich doch gar nicht. Woher will er wissen, wie es ist, wenn man das Leben einfach keine einzige weitere verdammte Sekunde lang ertragen kann? Wird er dann da sein? Wahrscheinlich sehen wir uns nie wieder.
«Warum sollte ich dir so etwas versprechen?», frage ich. Mein Blick bricht den Bann, reißt sich los von ihm und streift die Bäume so tief unter mir. Es ist wirklich hoch. Die Autos hinten auf dem Parkplatz sehen aus, als gehörten sie zu einer Modelleisenbahn. Und im Wald schimmert an ein paar Stellen zwischen den Blätterkronen der grasige Waldboden durch. Dort wäre ich jetzt, hätte ich es zu Ende gebracht.
Er folgt meinem Blick, versteht. Wir beide wissen, dass ich tot gewesen wäre, wenn er mich nicht gehalten hätte. Und wir beide wissen, dass es das war, was ich wollte, was ich eigentlich immer noch will.
«Es wäre falsch.»
Er hält meine Hand. Ich spüre die Anspannung in seinen Fingern, als erwarte er, dass ich jeden
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