Schattenbluete - Band 1 - Die Verborgenen
schwingt aufgebläht in meiner Hand. Ich muss ein ganzes Stück laufen, und nicht über Walderde. Meine Füße hassen den Beton des Gehwegs. Ich lasse die Schaufenster der Geschäfte, der Bäcker und Fleischer, der Boutiquen und Schuhläden vorbeiziehen. Und dann habe ich ihn wieder gefunden. Er sitzt da, der Junge, ein Kind noch fast, mit halbgeschlossenen Augen, angelehnt an die buntgeflieste Mauer, die die Rolltreppe hinab zum U-Bahnhof verbirgt. Seine Beine in grauen, abgetragenen Jeans ausgestreckt, die linke Hand im Fell seines Hundes vergraben. Ich stehe etwas abseits, und er bemerkt mich nicht, mich nicht und auch nicht die Leute, die sich in schwatzenden Grüppchen an ihm vorbeischieben. Als ein Mann mit Schnurrbart und Aktentasche eine Münze klappernd in seine Schale fallen lässt, sieht er kurz auf, als erwache er aus einem Traum. Sein dankbares Lächeln kommt zu spät, der Mann ist schon um die Ecke zur U-Bahn verschwunden. Der Hund rührt sich nicht. Es ist nicht Thursens Hund, glaube ich, aber er sieht ihm sehr ähnlich. Ein bisschen massiger vielleicht. Nie vorher habe ich so große schwarze, struppige Hunde gesehen. Wie wilde Verwandte der Schäferhunde. Auch der Hund döst, den Kopf auf dem Pflaster, und beachtet die Passanten nicht. Ich wünschte, er würde aufstehen, damit ich ihn besser sehen kann, seine Beine, wie er sich bewegt. Der Junge macht keine Anstalten aufzustehen, er hat den Kopf wieder rückwärts gegen die Mauer gelehntund die Augen geschlossen. Ich werde warten. Schlendere hinüber zum Schaufenster und tue so, als würde ich mich für Kleider interessieren. In Wirklichkeit beobachte ich die beiden in der Spiegelung der Scheibe. Sie bewegen sich nicht, auch nicht, als ich bei den Herrenanzügen angekommen bin. Mein Magen knurrt und mir ist kalt. Ich habe noch das Wechselgeld vom Jackenkauf in der Tasche, gehe mir damit eine heiße Brezel kaufen, an einem Stand an der nächsten Straßenecke.
Als ich zurückkomme, sind der Junge und sein Hund nicht mehr da. An ihrer Stelle sitzt ein bärtiger Mann auf einem Campinghocker und spielt auf seiner Geige einen Trauermarsch.
Ich mag nicht nach Hause. Gehe lieber noch einmal zu der Stelle im Wald, wo ich Thursens Hund das letzte Mal gesehen habe. Dort, wo ich am See nasse Füße bekommen habe. Dort, wo mich von irgendwoher Thursen beobachtet hat, vielleicht.
Diesmal gehe ich nicht bis ans Wasser, setze mich stattdessen auf einen umgestürzten Baumstamm und gucke den Enten beim Schwimmen zu. Eine Meise turnt im herabhängenden Zweig einer Weide. Meine neue Jacke hält mich warm. Ich habe am Bahnhof schon die alte ausgezogen, in die Tüte gestopft und die neue rausgeholt. Unterwegs habe ich die Preisschilder abgerissen und auf den Weg geworfen wie Hänsel und Gretel die Brotkrumen. Als wollte ich zurückfinden! Ich will nie zurück.
Auf einmal raschelt etwas hinter mir im Gebüsch. Ich höre das leise Hecheln, genau wie beim letzten Mal. Drehe mich ganz langsam um. Mein Herz hämmert. Ja, sein Hund, ganz sicher ist es diesmal Thursens Hund, steht da. Reglos starrt er mich aus gelben Augen an.
«Komm her!», locke ich, strecke ihm meine Hand entgegen. «Komm zu mir!»
Er bewegt sich nicht. Vorsichtig rutsche ich vom Baumstamm herunter. Bleibe ein paar Atemzüge lang stehen, und dann, ganz langsam, mache ich den ersten Schritt auf ihn zu. Er steht wie erstarrt. Noch ein Schritt. Dann, als hätte ich eine unsichtbare Linie übertreten, duckt er sich plötzlich, wirft sich herum und springt in langen Sätzen davon. Schnell wie ein flüchtender Hase ist er im Unterholz verschwunden. Da irgendwo im Gehölz verborgen muss Thursen gewesen sein, ganz nah, ich weiß es. Und jetzt? Sinnlos, ihn zu rufen. Sinnlos, ihn zu verfolgen. Ich bin wieder allein. Tränen rinnen mir die Wangen herab und tränken die neue Jacke mit meiner Trauer. So nehme ich die Jacke in Besitz. Jetzt ist es meine. Jetzt gehört sie zu mir.
Mitleidige Enten quaken, schicken mich nach Hause, bevor die Nacht kommt. In der Bahn schraubt ein Klarinettenspieler seine Töne zwischen die Fahrgäste. Ich hasse ihn. Er stört meine Tagträume von Thursen.
Zur Schule am nächsten Tag komme ich wieder zu spät. Nicht, weil ich verschlafe, ich schlafe fast gar nicht mehr. Zu spät, weil jede Bewegung zu viel ist. Als sei ich in schweres mattgraues Blei gekleidet vom Schuh bis zum Kopf. Als wäre das Blei ein Strahlenschutz, aber kein Schutz für mich, Schutz für meine Mitschüler.
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