Schattenblüte. Die Erwählten
heran. Es ist Zeit, ihre Wunden neu zu verbinden, die Wunden in ihrer Menschenhaut. Zeit, die alten Verbände abzulösen und ihr weh zu tun, wieder mal. Wenn es mir weh täte, das wäre hundertmal besser, als sie leiden zu sehen. Doch erst muss sie Mensch werden. Ich weiß, wie es sein wird. Wie es jedes Mal ist, wenn sie in ihre Menschengestalt zurückkommt. Ein Zittern wird über ihr Fell laufen, sie streckt sich. Das Fell um sie verfliegt, als wäre es nur eine Illusion gewesen. Dann liegt das Mädchen vor mir auf der Decke, das fast aussieht wie meine Luisa. Aber nur fast, denn sie hat sich verändert, ist weniger menschlich. Alles an ihr ist jetzt von einem fast durchscheinenden Grau. Ihre Haare haben die Farbe von Spinnenfäden, die Augen von Herbsthimmel an einem regnerischen Tag. Meine Haut ist winterblass, doch ihre ist noch viel blasser. Sie sieht fast aus wie aus dem Rauch gemacht, der von unserem Lagerfeuer aufsteigt. Ich habe so viele Menschen zu Werwölfen werden sehen, habe die Veränderungen hingenommen. Nie hat es mich geängstigt, so wie bei Luisa.
Ich weiß ganz genau, warum das so ist. Weil sie nicht irgendein Mensch, sondern der wichtigste Mensch in meinem Leben ist. Sie ist der Grund, warum ich überhaupt lebe. Ohne sie ist alles nichts.
Das Wasser neben mir wird langsam kalt, und ich versuche noch einmal, sie zu wecken. «Luisa! Hör doch, Luisa!», flüsterte ich in ihr Ohr. «Komm zu mir zurück! Bitte, du musst dich jetzt verwandeln.»
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2. Luisa
ICH liebe ihn. Ich liebe es, wie seine Hand mit den schlanken Fingern meinen Pelz kämmt. Ich mag den Klang seiner Stimme, so sanft. Er spricht mir ins Ohr, flüstert leise. Sein Tonfall drängt mich. Wozu? Was will er? So viele Laute fallen aus seinem Mund, gleiten über mich hinweg und füllen die Winterluft. Ich blinzele in das Licht der Sonne, das zwischen den Zweigen auf uns herabfällt, gekämmt, wie mein Fell. Er, der mir so wichtig ist, ist ganz nah bei mir. Gut so. Ich rieche genussvoll an seiner Hand, lecke mit meiner Zunge darüber, um den vertrauten warmen Geruch ganz in mich aufzunehmen. Und noch immer spricht er zu mir, umwebt mich mit seiner Stimme und lässt mich nicht aus den Augen. Sie sind braun, seine Augen. Braun wie das Fell eines Rehs. Ich möchte liegen bleiben, ewig so liegen bleiben, ausgestreckt auf dem Waldboden und seine Hände in meinem Fell. Ich möchte den Wald atmen, die harzigen, modrigen Gerüche der lebenden und sterbenden Bäume, die würzigen, scharfen der Tiere. Da ist das ferne Schilf des Sees, leise knisternd unter der Kälte. Der Wald ist in Raureif getaucht.
Ich rege mich nicht, fühle die Hand auf mir und das Vibrieren seiner Stimme in meiner Seele. Ich atme flach, das ist besser so, denn meine Rippen schmerzen wie Fuchsbisse bei jedem Atemzug. Nur meine Ohren wende ich den Geräuschen zu. Da sind die winzigen Herzschläge der Waldmäuse unter dem Laub. Der Singvogel, die Federn aufgeplustert, über uns in den Zweigen. Auch dessen Herz pocht mit aller Macht an gegen die Winterkälte. Und das von ihm, ihm, dessen Schlagen meinen Tag begleitet. Ich könnte es besser hören, wenn er nicht immer noch reden würde, wenn er mich nicht so drängen würde. Und mit einem Mal weiß ich, was er will. Wieder einmal.
Nein, bitte, nein!
Es ist so schwer. So verdammt schwer, was er da verlangt!
Ich winsele, ohne es zu wollen, als ich mich durchringe, die Wolfsgestalt gehenzulassen. Winsele, als mein Pelz von mir abfällt und ich mir mit einmal nackt vorkomme in meiner viel zu dünnen Menschenkleidung. Von einer Sekunde auf die andere scheint sein Duft verweht. Der Wald knistert und knackt weiter, aber die Gerüche bleiben stumm. Gegen meine Wolfsnase ist meine Menschennase taub.
«Shorou!», flüstert er meinen Namen. Ich verstehe endlich, was er sagt. «Shorou!», sagt er noch mal. Denn er weiß, das ist das Einzige, was mich dazu bringen kann, zurückzukehren in meine zerrissenen schmutzigen Klamotten: Dass ich ihn dann verstehe. Dass ich ihm antworten kann mit meinem Menschenmund. Dass ich seinen Namen sagen kann. «Thursen.»
Er, Thursen, lächelt auf mich herab. Und dann spüre ich seine Lippen, kühl und weich auf meinen. Das beste Gefühl von allen, so vertraut. Vertraut, ja, auch wenn ich mich nicht wirklich erinnere. Dabei müsste ich mich doch erinnern, an solche Küsse, oder nicht? Ich will mich aufstützen, aufrichten, ihm entgegenkommen. Doch als ich es versuche, stöhne ich
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