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Schattenblüte. Die Erwählten

Schattenblüte. Die Erwählten

Titel: Schattenblüte. Die Erwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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legt sie vorsichtig in seine hohle Hand und gießt aus einer kleinen Flasche Alkohol darüber. «Ziehst du das selbst aus?»
    Ich befreie mich aus meiner Jacke. Betrachte mit Herzklopfen, wie er die notdürftig desinfizierte Klinge zwischen die Fingerspitzen nimmt und sich den übrig gebliebenen Alkohol in den aufgesprungenen Händen verreibt. Noch einmal wickelt er vorsichtig den Verband ab, bis zu der Stelle, an der es nicht mehr weitergeht. Dann ein rasches Brennen.
    «Autsch!», zische ich.
    Thursen hat einen feinen Schnitt gesetzt und den Stoffstreifen ein Stück weit befreit. Ich will die Zähne zusammenbeißen, mich gegen den Schmerz wappnen, bevor er weitermacht. Doch stattdessen beugt er sich vor und drückt seine Lippen auf meine. Es ist ein eindringlicher, sanfter Kuss. Ich wünschte, ich könnte mich noch an all unsere Küsse erinnern. Ein paar sind noch da. Ich suche in meinem Kopf, finde sanfte Küsse, rasche, flüchtige Küsse, und lange, eindringliche, bei denen mir im ganzen Körper warm wurde. Thursens Küsse. Und da ist noch ein anderer Mund, der mich geküsst hat, irgendwann. Als ich mich gerade erinnern will, wer das war, beißt ein weiterer Schmerz in meine Rippen.
    «Gleich vorbei», sagt Thursen. Dieser Kuss ist kürzer, und der nächste Schmerz folgt schneller.
    «Nicht!», bitte ich. Doch dann hat er den letzten Zipfel des Verbandes losgeschnitten. Er desinfiziert meine Haut mit einem Spray aus einer kleinen weißen Pumpflasche und holt ein neues, noch ungeöffnetes Verbandspäckchen aus dem Rucksack.
    «Ist aus einem Autoverbandskasten», sagt er. «Den hat Mauriks gefunden.»
    Er hat eine Stelle meiner wunden Haut entdeckt, die er noch nicht eingesprüht hat und bedeckt auch sie mit einem feinen Nebel. Das Zeug ist so kalt. «Ich bin nicht gerade eine Heldin, oder?», frage ich.
    «Du hast Nicks Angriff überstanden, und du hast überlebt. Du hast dich gewehrt, so gut es ging. Das reicht an Tapferkeit für den Rest deines Lebens. Können wir den neuen Verband jetzt anlegen?» Thursen knibbelt die Folie vom Päckchen.
    Ich wende unwillkürlich den Kopf, als ich das ferne Geräusch von rennenden Pfoten wahrnehme.
    «Haddrice?», fragt Thursen.
    Ich nicke. «Aber irgendwas stimmt nicht.» Ihr Angstgeruch weht zu uns herüber. Und dann sehe ich sie, die schwarze Wölfin, langgestreckt auf uns zu galoppieren. Erst unmittelbar vor uns lässt sie die Wolfsgestalt fallen und wird zu der schattenblassen Frau.
    «Ihr müsst weg!», keucht sie. «Sie sind gleich hier.»
    «Wer?», frage ich, mein Herz hämmert schneller. «Nicks Leute?»
    Haddrice schüttelt den Kopf. «Shinanim.»
    «Scheißhalbengelspack.» Thursen wirft das Verbandspäckchen beiseite und streift mir wortlos und hastig meine Kleidung über die frisch geöffneten Wunden.
    Halbengel? Ist das gut oder schlecht? Das Wort Shinanim hat mir mal was gesagt, bestimmt. Ich wühle verzweifelt in meinem Gedächtnis, aber da ist keine klare Erinnerung mehr. Nur eine diffuse Angst, die sich in den Augen von Thursen und Haddrice widerspiegelt.
    «Kein Verband?»
    «Keine Zeit.» Thursen wirft das Desinfektionsmittel in den Rucksack. «Erst mal müssen wir verschwinden. Hoffentlich kannst du laufen.»
    «Ich weiß nicht», beginne ich. «Ich hab keine Ahnung, ob ich schon so weit bin.»
    Haddrice packt mich am Arm. «Du kannst. Du musst!»
    Ich ziehe meine Beine an, die sich vom langen Liegen fremd und hölzern anfühlen, als würden sie zu jemand anderem gehören.
    «Beeil dich! Steh endlich auf, Shorou!», knurrt sie.
    «Los, komm her!» Thursen zögert nicht. Er nimmt meine Hand und zieht mich hoch. Mein Körper brüllt vor alten Schmerzen, als ich mich zusammenkrümme und die Beine unter mich ziehe. Dann drücke ich die Knie durch, und wieder fühlt sich mein blasser, farbenloser Körper fremd an. Als würde ich ihn mit einer schwarzweißen Figur teilen. Doch die Kraft ist zurückgekommen, tatsächlich. Etwas zittrig bin ich, aber ich kann stehen. Dass ich die Arme um Thursens Hals gelegt habe, immer noch, obwohl Haddrice ungeduldig schnaubt, liegt daran, dass ich nicht wage, ihn loszulassen. Nicht in dieser verwirrenden, fremden Welt, in der sich meine alten Erinnerungen auflösen und ich noch kaum neue habe.
    «Ich komme ja mit dir», flüstert er mir ins Ohr und streift meine Wange mit seinen Lippen. Meine unverbundenen Wunden brennen unter dem Shirt, als ich mich zu ihm drehe.
    Haddrice schüttelt den Kopf. «Nein, tust du nicht. Versteck

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