Schattenblüte. Die Erwählten
Gibst du mir dann trotzdem mein Menschenleben wieder?»
«Ich gebe dir nur zurück, was deins ist. Und außerdem wird dir die Kontrolle ohnehin entgleiten, wenn du Werwolf bleibst. Irgendwann entscheidest du nicht mehr, was du gerade sein willst. Dann übernimmt der Wolf in dir. Du erlebst eine kurze Phase der Stärke, der Freiheit, und dann ist es aus. Ein Wolfsleben ist verflucht kurz.»
«Vielleicht gefällt mir das kurze Wolfsleben?»
«Du sollst nicht so früh sterben. Es gibt mehr im Leben als Stärke und Jagd. Außerdem brauche ich dich noch.»
Ich lächle, als er mich auf die Nase küsst. Ich brauche ihn auch, so sehr. Nein, freiwillig würde ich ihn niemals aufgeben. «Was meinst du mit: ‹Der Wolf übernimmt die Kontrolle›?»
«Du wirst dich verändern. Vielleicht hat es sogar schon begonnen.» Er streicht mit der Fingerspitze eine Haarsträhne aus meiner Stirn. «Dein Denken verändert sich, deine Sicht der Dinge. Das Töten, es wird ganz leicht. Deine Wut wird ungezähmt. Du wirst wilder werden und rücksichtsloser. Das ist der Werwolf in dir, der erwacht, mächtiger wird und seinen Platz fordert.»
«War das bei dir auch so?»
«Ja, war es. Mein erstes Wild zu töten war eklig. Schließlich war es ein unschuldiges Tier, voller Angst, voller Leben. Wie konnte ich bloß? Irgendwann aber lernte ich das Jagdfieber kennen und habe mich von dem Raubtier in mir leiten lassen. Seitdem habe ich meinen Opfern mit einem einzigen Biss die Kehle durchtrennt. Ganz schnell, ganz einfach. Es ist, als könntest du im Töten das Leben der Beute trinken. Du bist lebendiger, kräftiger und wacher als jemals zuvor.» Er schließt die Augen, schluckt, wie um das innere Bild zu vertreiben. «Es ist schwer, damit aufzuhören.» Er schweigt, scheint den inneren Kampf noch einmal zu fühlen, denn noch immer hat er die Zähne zusammengebissen.
Ich kann kaum begreifen, was er da sagt. Werde ich wirklich irgendwann Spaß am Töten finden? Es ist eine furchtbare Vorstellung. Das Reh, das eben noch gerannt und über einen Busch gesprungen ist, liegt im Gras und wird niemals wieder aufstehen, und mir soll das gefallen? «Ich töte bestimmt nie mit Freude.»
«Das sagst du jetzt. Warte, bis du stark genug bist, um mit dem Rudel zu jagen.»
Und wenn er recht hat? Ich ahne, wovor er mich warnen will. Da ist etwas in mir, tief unten auf dem Grund meiner Seele, das sich sehnt zu hetzen. Etwas, das langsam erwacht. Schnell fasse ich nach seiner Hand und drücke sie. «Hol mich vorher zurück. Hol mich jetzt zurück, jetzt gleich.»
Ein Kuss auf meiner Stirn. «Heile erst.»
Meine Erinnerungen schwinden, und der Wolf in mir wird stärker. «Wie lange noch?» Werde ich wenigstens eine Ahnung an mein früheres Ich bewahren können? Oder muss ich mich erst ganz verlieren?
«Ein paar Tage vielleicht.»
Noch ein paar Tage, dann bin ich wieder Mensch. Dann werden vielleicht die alten Erinnerungen über mich hereinbrechen. Was ist, wenn sie wirklich so schlimm sind, wie Thursen angedeutet hat? Werden sie mich verschlingen? Doch er wird auch dann da sein und dafür sorgen, dass ich nicht in ihnen ertrinke. Er weiß, was er tut. Er selbst war Werwolf. Ich war es, die ihn zurückverwandelt hat, sagt er. Noch so ein blinder Fleck auf meiner Vergangenheit. Nur Bilder, Schnipsel, Stücke sind übrig geblieben, mit lauter Lücken dazwischen. Verblassende Bilder, die aneinandergesetzt eine Collage ergeben, aber niemals den Film, der mein Leben abbildet. Und es wird schlimmer, mit jedem Tag, mit jeder Stunde, die ich länger Werwolf bin.
Da ist doch noch etwas anderes, das ihn zögern lässt. Noch etwas außer der zurückkehrenden Erinnerung. Ich sehe es in seinen Augen, in denen jetzt schon das Mitleid wartet. «Die Rückverwandlung, wie wird die sein?», will ich wissen.
«Nicht so schön.»
Nicht so schön? Sein Mund sagt etwas anderes als sein Gesicht. Sei ehrlich, Thursen! «Also schlimm, richtig schlimm?»
«Ja, schlimm. Schlimm und schmerzhaft und grauenvoll. Willst du das wirklich hören?»
«Bereust du es? Dass du zurückverwandelt wurdest, meine ich?»
«Das hast du mich schon mal gefragt.»
Habe ich das? Wieder ein blinder Fleck. «Und was war deine Antwort?»
«Nein. Nein, ich bereue es nicht.»
Woher kommt dann die Sehnsucht in seiner Stimme? «Aber?»
«Wirklich, ich bereue nichts. Es war richtig und wird immer richtig sein, dass du es beendet hast. Nur … ich wäre so gerne einmal, ein einziges Mal mit dir durch den
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