Schattenbruch
löschte der Mann die Kerzen. Der Keller versank in Dunkelheit. Nur vom Eingang drang noch Tageslicht in das Gewölbe. Der Schattenspieler zog sich hinter sein Leintuch zurück, und die Menschen vernahmen ein Klicken, als öffne sich eine Metallklappe. Kurz darauf erstrahlte die Leinwand in orangefarbenem Licht, das mit Hilfe einer Laterne auf die Rückseite des Tuchs geworfen wurde.
»Laßt nun die Schatten sprechen«, rief der Mann seinen Zuschauern aus dem Hintergrund zu. Kurz huschte der Schemen seiner feingliedrigen Hand über die Leinwand. »Den Bildern, die unsere Augen erhaschen, können wir nicht länger trauen. Es wird Zeit, hinter die Kulissen zu schauen; dort sehen wir nichts als die Scherenschnitte, gefertigt von alten Händen, die unser Schicksal formen wollen. Ja, meine Freunde - die Wahrheit, an die wir geglaubt haben, gilt nicht länger. Unsere Augen sind unzuverlässig geworden, unsere Sinne schweifen ab und wollen die Welt von morgen erfassen. Was uns vertraut ist, geht dahin im Zeitalter der Wandlung. Tathril hat sich von uns abgewandt, und die Quellen, die wir so lange beherrscht haben, zerren an ihren Fesseln. Selbst die Fürsten des Thronrats, die unseren Kampf gegen die Goldei anführen sollten, sind von uns gegangen.« Er senkte die Stimme. »Ja, meine Freunde - die Gerüchte sind wahr: Der Thronrat Sithars ist vernichtet, der Silberne Kreis zersprengt. Laßt die Schatten sprechen; nur sie können euch diese Geschichte erzählen.«
Ein Rascheln, dann wandelte sich das Licht, wurde heller und weißer. Schatten begannen auf der Leinwand zu tanzen: kunstvolle Figuren aus Stäben und Papier. Sie stellten die Fürsten Sithars dar; deutlich waren ihre markanten Profile zu erkennen, ihre Mäntel und Halsketten. Einige Einzelheiten waren besonders gut getroffen: die massige Gestalt des thokischen Fürsten Arkon Fhonsa oder die Lockenpracht Scorutar Suants, des Fürsten von Swaaing. Den größten Schatten warf der Herrscher von Palidon, Binhipar Nihirdi; die Zuschauer erkannten ihren Fürsten sofort anhand der breiten Schultern und der geflochtenen Enden seines Bartes. »Die Fürsten Sithars«, hob der Schattenspieler wieder an, »die mächtigen Herren des Kaiserreiches … sie flohen nach Vara, der alten Kaiserstadt, nachdem Thax in Flammen untergegangen war. Nhordukaels Feuersturm hatte den Silbernen Kreis vertrieben. In Vara wollte dieser in neuer Stärke zusammentreten, um das Reich zu bewahren: vor Nhordukaels blindem Zorn und vor den Goldei, deren Schiffe die Küsten bedrohten. Den wahren Feind aber erkannten sie nicht. Denn er wohnte in ihrer Mitte …«
Zu den neun Schattengestalten gesellte sich eine weitere: ein Kind auf einem Thron, den Kopf herrisch emporgereckt. Die übrigen Schatten senkten die Häupter und hoben ehrfürchtig die Hände. Deutlich waren die feinen Holzstäbe zu sehen, mit denen der Schattenspieler die Glieder der Scherenschnitte bewegte. Wie nur gelang es ihm, die filigrane Mechanik aller zehn Figuren zu bedienen? Jede von ihnen bewegte sich unabhängig voneinander, war von Eigenleben erfüllt. Die Kinder staunten mit offenen Mündern, und die Erwachsenen tuschelten miteinander, während der Schattenspieler in seiner Erzählung fortfuhr.
»Uliman Thayrin, Fürst von Thax und neuer Kaiser des Reiches: Erbe des Throns, den sein Vater Akendor verwaist zurückgelassen hatte. Zwölf Jahre alt war der Knabe, als er zum Kaiser ernannt wurde und die Hand der arphatischen Königin nahm.«
Einige Männer im Publikum nickten verbittert. In der Tat, Uliman Thayrin hatte Inthara von Arphat zur Frau genommen: die Königin jenes Landes, das einst ein unversöhnlicher Gegner Sithars gewesen war. Nun zogen die früheren Todfeinde vereint gegen die Goldei ins Feld. Die Heirat zwischen Uliman und Inthara war im Volk umstritten, doch die Furcht vor den echsenhaften Wesen, die Gharax bedrohten, hatte alle Widerworte fürs erste verstummen lassen.
»Uliman versammelte die Fürsten im Kaiserpalast von Vara; sie glaubten, er wolle mit ihnen Rat halten über den Feldzug gegen die Echsen. Welch Irrtum!« Das Licht im Gewölbe änderte sich schlagartig; blutiges Rot tränkte das Tuch. »Verrat! Rachsucht und Mord! Der Kaiser hatte sie in eine Falle gelockt. Seht, seht wie sie sterben, erwürgt von des Kaisers Hand. Einem nach dem anderen schnürt Uliman die Kehle zu, meuchelt sie dahin in blindem Wahn. Seht, wie sie fallen …«
Die Figuren begannen zu tanzen: ein Todesreigen, wildes
Weitere Kostenlose Bücher