Schattengeschichten
des Stuhles, der darunter stand, vorbei an Wänden, die in einer ungewissen Schwärze verschwanden, und schließlich schweifte sein Blick über das Waschbecken und die verschiedenen Behältnisse mit Flüssigkeiten. Die Leinen mit den Fotos hingen wirr über seinem Kopf. Was sollte er Herbert sagen?
Die leere Dose, noch immer in seiner Hand, wie ein Fremdkörper, den er abstoßen wollte, doch irgendeine Macht hielt ihn davon ab, sie einfach fallen zu lassen, obwohl ihn das Geräusch des Aufpralls beruhigt hätte. Verunsichert und kindisch lief er auf und ab, murmelte weiter Flüche und betrachtete wiederholte das schwarze, runde Ding, hielt es hoch, wendete es. Wo hast du meinen Film versteckt?, dachte er. So etwas war ihm noch nie passiert.
In Gedanken verloren bekratzte Gerrit den Boden der Fotodose mit seinen Fingernägeln. Das half ihm häufig beim Nachdenken, es beruhigte ihn. Und dieses Mal gesellte sich ein anderes Geräusch zu dem Ratschen, das er verursachte. Ein Schnurren, wie von einem fabrikneuen Staubsauger, für die gestresste Hausfrau von heute, mit Geräuschdämpfung und automatischer Regelung bei widerspenstigen Oberflächen .
Es klopfte an der Tür zur Dunkelkammer. Gerrit stellte die Filmdose vorsichtig auf den Tisch. Das Geräusch verstummte.
„Was ist denn?“, fragte er laut in den Raum. Es klang unnatürlich hohl und gepresst.
„Gerrit, ich hab´ hier noch´n paar weitere Filme“, schallte es durch die Tür, „die entwickelt werden müssen. Das sind die letzten für heute.“
Nicht jetzt, dachte er und stellte sich vor, wie Herbert die Tür öffnete und Gerrits schuldbewusste Miene erblickte. Es war zwar nur ein verschwundener Film, aber...
„Leg´ sie mir vor die Tür, Herbert.“
„Okay“, kam die Antwort. Gerettet für den Augenblick.
Es hatte keinen Sinn, den Film weiter zu suchen. Er blieb verschwunden. Sollte er womöglich aus eigener Kraft die Dose verlassen haben und nun durch den Raum rollen, auf der Suche nach frischer Flüssigkeit, die ihm das Negativ austrieb?
Gerrit schaute auf die Uhr. Er hatte noch etwa drei Stunden, bis er Herbert sein Missgeschick zu beichten hatte. Genug Zeit, um ein kleines Chaos zu schaffen, in dem es unmöglich war jeden Film wiederzufinden. Möglicherweise würde er Herbert davon überzeugen können, dass er Gerrit den Film gar nicht gegeben hatte.
„Scheiße!“ Ein Schmerz durchzuckte seinen Zeigefinger. Er schaute auf die Stelle, in die der Splitter gedrungen war. Sie blutete. Gerrit saugte daran. Irgendwie war der Splitter herausgerutscht, es zog nicht mehr. Als die leere Filmdose zu Boden fiel, war ihm klar, womit es geschehen war. In Gedanken verloren hatte er sie wieder in die Hand genommen. Das beruhigende Schnurren hüllte den Raum wieder ein.
Gerrit hob die Dose auf und horchte daran. Tatsächlich war sie die Quelle des Geräuschs, das in seinen Ohren so warm und wohl klang. Er drehte die Öffnung, sodass er hinein blicken konnte. Wieder kratzte er am Boden der Dose.
Sein rechtes Auge blickte in Schwärze. Eine Dunkelheit, die sich aber grundsätzlich von der im Raum unterschied. Diese Schwärze besaß Resonanz, sie war ihr eigener Raum und suggerierte ihrem Betrachter unendlich zu blicken. Aus den Tiefen der Filmdose drang das Geräusch und einem tastenden Finger gleich berührte ihn die andere Schwärze an seinem Auge, drang unter seine Lider und umschlang den Augapfel. Fordernd zog es an dessen Verwurzelung.
Ohne einem wirklichen Schmerz, noch einer allzu menschlichen Verwunderung verschwand schließlich Gerrits Auge in der Dose und tauchte ein in die tiefe Schwärze, die der Länge des Behältnisses, und damit dem menschlichen Verstand Lügen strafte. Gerrits Auge war verschwunden und das Etwas zog noch immer. Unsichtbare Finger zerrten nun an der dünnen Hautschicht, die das Gehirn von seiner Befreiung trennte und Gerrits Neugier hätte ihn beinahe seines Lebens beraubt.
War es Glück, dass Herbert noch einmal an der Tür klopfte, oder hinterließ die Unterbrechung den Gerrit unbefriedigt? Jedenfalls ließ er die Dose erneut fallen. Das Schnurren und auch das Zerren einer anderen Welt ließen von ihm ab.
„Was ist?!“, rief Gerrit. Blut rann über seine Wange.
„Hast du einen Moment? Ich muss mit dir sprechen.“
Nein, ich habe gerade mein Auge verloren, dachte er. So wie den Fotofilm zuvor. Ich glaube, ich muss zum Arzt, einem Spezialisten, ausgebildet im Bereich einzigartige Medizin, Spezialgebiet
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