Schattengreifer - Die Zeitenfestung
Krähe wehrte sich. Sie schimpfte und schrie, doch schließlich ergab sie sich ihrem Schicksal und verharrte reglos in ihrem engen Gefängnis.
»Es ist nur für eine kurze Weile«, redete Simon auf sie ein. »Versprochen.« Und damit wandte er sich augenzwinkernd der kleinen Krähe zu. »Die Welt zu deinen Füßen? Ganze Bäume, die deinen Namen tragen?«
Die Kleine tat schnippisch. »Hab ich euch geholfen oder nicht?«
Neferti beendete die Albernheiten: »Das hast du. Und wir
danken dir dafür. Nun lasst uns überlegen, wie wir Nin-Si beistehen
können.«
Es durchfuhr ihn.
Ein
unbekanntes Gefühl. Wie eine Lähmung.
Gerade so, als habe man ihm eine
Hand auf den Rücken gebunden oder eines seiner Augen geschlossen.
Er
wusste sofort, was dies zu bedeuten hatte.
Doch er ließ sich nicht
beirren.
Er ging seinen Weg weiter.
Er hatte geahnt, dass es ihn nicht
nur Mühe kosten würde, sondern dass er vielleicht auch Opfer bringen
müsse.
Er verschwendete keine weiteren Gedanken an seine Gehilfin auf
dem Deck des Schiffes.
Er schenkte dem Vorfall keine Beachtung. Die
Vollendung seines Plans war das Einzige, was wichtig war.
Die Sonne
beschien heiß seinen Rücken. Doch Hitze oder Kälte spürte er schon
lange nicht mehr.
Er blickte stur geradeaus, auf den Boden, auf den
Sand, auf dem er ging.
Er beobachtete die Schatten. Beide Schatten,
wie sie vor ihm über den Sand und die kleinen Gesteinsbrocken
glitten.
Zwei Schatten: sein eigener Schatten, schmal, hager und
lang.
Und der andere Schatten. Der des Mädchens. Der sich krümmte in
den Händen des hageren Schattens.
Der Magier
grinste. Sie wand sich. Sie wehrte sich. Sicherlich spürte dieser
Schatten des Mädchens, dass sie ihrem Ziel bereits ganz nahe waren.
Mit vereinten Kräften zerrten Moon, Neferti und Simon an dem Tau. Sie stemmten sich mit den Füßen gegen die Bordwand der Backbordseite, um mithilfe des Taus – wie bei einem Flaschenzug – die Zeitmaschine aus dem Rumpf des Schiffes herauszuhieven. Schon bald war die Raubtierkralle auf dem goldenen Bogen zu sehen, der den riesigen Globus der Maschine umspannte. Einige Handgriffe noch, und die Glaskugel zeigte sich, mit dem Herz des Schattengreifers darin. Sie war eingefasst in die runde Steinplatte, die als Uhr diente.
Und schließlich tauchte die Sanduhr aus dem Inneren des Schiffes auf, mit ihrem blutroten Sand, der die Stunden maß, in denen die Jugendlichen sich in anderen Epochen bewegen konnten. Mit einem mächtigen Schlag, der das ganze Schiff erbeben ließ, hakte die Vorrichtung ein, und die Zeitmaschine stand in ihrer ganzen beeindruckenden Pracht auf Deck.
Simon wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Das Herz im Inneren der Uhr blähte sich zitternd auf und fiel in sich zusammen. Das Schiff vibrierte kurz.
»Wir sind nicht sehr viele«, stellte Caspar unbehaglich fest. »Vier Freunde immerhin. Aber wir müssen uns der Macht eines mächtigen Magiers stellen.«
»Wären Basrar und Salomon nur hier«, gab ihm Simon recht. »Sie wären eine große Hilfe.«
»Lasst uns keine Zeit mehr verlieren«, bat Neferti. »Ich habe Angst um Nin-Si.«
Caspar griff hinter sich und legte sich mit einem Ruck den Beutel auf die Schultern, in den er vorhin die Vorräte gesteckt hatte: Brot und Äpfel für alle und dazu einige Feldflaschen mit Wasser.
Simon trat zuerst an die Maschine. Die kleine Krähe saß erneut auf seiner Schulter. Er rief sich Nin-Sis Gesicht vor Augen und legte beide Hände in die Mulden der Steinplatte.
Wind kam auf. In Sekundenschnelle nahm er an Stärke zu und brauste ohrenbetäubend über das Deck.
Als Neferti ihre Hände in die Mulden legte, kam das Meer in Bewegung. Der Seelensammler wurde von den Wellen hin und her geworfen.
Kaum hatte Caspar seine Hände auf der Platte, da bäumten sich bereits vor und hinter dem Schiff die riesigen Wände aus Wasser auf, die schließlich über ihnen hereinbrachen, als Moon seine Hände zur Platte ausstreckte.
Simons letzte Gedanken galten Nin-Si und auch seinem Vater. Wo mochte er sein? Befand er sich auch in Nin-Sis Zeitepoche? Begleitete er den Magier in die Stadt Ur?
Ich hoffe, es geht dir gut, Papa, dachte Simon noch, bevor die Wassermassen das Schiff überspülten und der Seelensammler die Zeitreise antrat.
Das Wasser hatte inzwischen Christians Shirt völlig durchnässt. Er zitterte am ganzen Leib vor Kälte.
Das Knurren des Tigers war nur noch selten zu hören. Vielleicht war das Tier eingeschlafen.
Er musste etwas tun!
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