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Schatteninsel

Schatteninsel

Titel: Schatteninsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marko Hautala
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gefragt, wo sie gewesen waren, brachte aber kein Wort heraus. Ina hatte manchmal getrockneten Rotz in den Nasenlöchern. Jenni nicht.
    »Wart ihr schon schwimmen?«, rief Markus’ Mutter mit leichtem Lallen, dabei war es fast noch Vormittag. Sie legte die Hand über die Augen und fächelte sich mit einer finnischen Illustrierten das Gesicht. Ihre Miene konnte Markus nicht erkennen, aber in ihrer Stimme, die vom bis in die Morgenstunden anhaltenden Reden und Singen heiser war, lag weder Vorwurf noch Besorgnis. Kinderwaren eben Kinder, dachte sie, zumindest dann, wenn sie betrunken war.
    Jennis und Inas Eltern rührten sich nicht. Sie lagen in identischer Haltung auf ihren schmutzig weißen Liegestühlen, die Augen geschlossen, die Lippen leicht geöffnet und die Stirn ein wenig gerunzelt. Als Markus Jennis Hand loslassen wollte, drückte sie ihrerseits seine Finger umso fester. Sie sahen sich an und lächelten. Die Blicke der anderen konnten ihnen nichts anhaben. Diese Gewissheit ließ den Himmel grenzenlos scheinen. Ein bis in die Ewigkeit reichendes Blau, wie ein besseres Meer, eines, in dem es keine Quallen gab.
    Markus betrachtete seine Erinnerung, lebte in ihren Düften, spürte ihre Intensität und die Unmittelbarkeit des Moments, obwohl die Bilder verschwanden. Nur das Geräusch des Meeres blieb. Es war ein gleichgültiges Geräusch, wie der Atem eines vor langer Zeit Verstorbenen, der immer noch nachhallt. Ein Geräusch, das Markus daran denken ließ, wie es war, auf dem Wasser zu treiben. An die Weite des Himmels und das Wiegen der Wellen. An das Rauschen des Ozeans in den Gehörgängen.
    Markus stand auf und verließ das Zimmer, trat über die Schwelle der Haustür und ging die Treppe hinunter. Das Geräusch des Meeres blieb, es verstärkte sich, wurde zum Sturm. Holte neue Erinnerungen herauf. Die Dunkelheit, das Knarren des Mastwerks, die Schreie.
    Das Haus blieb zurück, als Markus auf das Ufer und die Landspitze zuging. Ihre steinernen Formen bedeuteten ihm aus der Ferne nichts. Er musste näher heran.
    −
    Ina schnitt in der Küche Zwiebeln, als sie plötzlich der Stille im Haus und Markus’ Abwesenheit gewahr wurde. Das Messer verharrte über dem Schneidebrett.
    Sie wusste nicht, was sie aufmerksam gemacht hatte. Vielleicht das Schuldgefühl, das sie überkam, weil sie seit einer Weile nicht mehr an Markus gedacht hatte. Weil sie in ihrer persönlichen Furcht versunken war, obwohl es bei Jennis und Aarons Besuch um etwas viel Größeres ging.
    Die Tür stand auf, merkte sie. Der Wind wehte ins Haus. Sie ging in die Diele, blieb vor der offenen Tür stehen und betrachtete den leeren Vorplatz. In der Küche lief das Radio leise weiter. Markus war nirgends zu sehen.
    Ina schloss die Tür und blieb in der Diele stehen. Sie lehnte die Stirn an die kalte Lackfläche und atmete gleichmäßig.
    Sie könnte hierbleiben. Einfach nur atmen, den Dingen ihren Lauf lassen. Es wäre Gottes Werk, nicht ihres. Vielleicht dürfte sie sich dann endlich ausruhen.
    Aber nein. Sie wusste, dass so etwas nicht das Werk Gottes wäre, sondern eine furchtbare Sünde.
    Sie fuhr in die Gummistiefel, öffnete die Tür mit einem heftigen Ruck und rief nach Markus, so laut sie konnte. Sie wusste genau, wo sie suchen musste, und schlug den schmalen Pfad zum Ufer ein. Ihre Stiefel dröhnten dumpf auf den Baumwurzeln und rund geschliffenen Steinen.
    Die Landspitze war bereits zu sehen, das Rauschen der Wellen zu hören. Die im Halbkreis angeordneten Steinhügel zeichneten sich vor dem Meer und dem Himmel ab. Der heilige Ort, den die alten Gräber bildeten. Die Inselbewohner ließen ihre Kinder überall in den Wäldern und an den Ufern herumlaufen, nur hier nicht.
    »Markus!«, rief Ina und blieb beim letzten verkrüppelten Baum stehen. Sie schaute auf die verlassene Landspitze.
    Ina wischte sich die letzten Zwiebeltränen aus den Augen und betrachtete das bis ans Ufer reichende Geröllfeld und den zum Meer abfallenden Felsen dahinter, suchte nach einer Höhle, einer Vertiefung, in der Markus Schutz vor dem Wind gesucht haben könnte. So hatte sie ihn einmal gefunden, nur mit der Unterhose bekleidet in eine sanft abfallende Felsspalte gekauert. Dennoch schweifte ihr Blick immer wieder über das Meer, über sein blaugraues Wogen.
    Einer der Grabhügel bewegte sich. Nein, er konnte sich nicht bewegen. Die anderthalb Meter hohen Gebilde standen seit Jahrhunderten an ihrem Platz.
    »Markus?«, fragte Ina und legte eine Hand über die

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