Schatteninsel
Interesse für die Geschichte der Insel Spegelö begonnen hatte. Jenni hatte nie erfahren, wie diese Manie entstanden war, hatte aber schon damals die Insel und die andie Siebzigerjahre erinnernde Atmosphäre des Hauses als abstoßend empfunden. Das steile Satteldach war nostalgisch und zugleich bedrückend. Es war leicht, sich Präsident Kekkonen und eine Horde wortkarger Sowjets auf der Terrasse vorzustellen, Wodka- und Bierflaschen auf dem Tisch aufgereiht. Markus hatte nur geschnaubt, als sie ihm das gesagt hatte. Er hatte den Kauf bereits getätigt, bevor er Jenni auf die Insel mitnahm. Damals war er schon distanziert gewesen, hatte sich in seine Arbeit vergraben und lange Perioden ohne Jenni in diesem Haus verbracht.
Unmittelbar vor der Terrasse lag ein großer glatter Felsen, der schroff zum Meer abfiel. Zu steil für Miro, dachte Jenni. Um das Haus wuchsen drei gewaltige Kiefern, die gerade aufragten, doppelt so hoch wie der Dachfirst. Auf der Terrasse stand jemand. Es musste Ina sein, die Hände in die Seiten gestemmt und die Haare zum Dutt aufgesteckt.
Als sie jünger waren, hatte Jenni immer gesagt, Ina müsse sich frisieren lassen, damit sie nicht aussähe wie eine frömmlerische Oma. Nach dem Konfirmandenlager war Ina genau das geworden. Grau, fromm. So verdammt brav, dass Jenni selbst bei schwesterlichen Streitereien keine Wut oder Siegesfreude mehr empfunden hatte, sondern nur ein nagendes Schuldgefühl. Jenni erinnerte sich, dass sie allen Ernstes den Eindruck gehabt hatte, der ganze Religionszirkus sei nur eine Art Rache für alles, was sie Ina im Lauf der Jahre angetan hatte. Ina hatte einfach wissen müssen, wie betrogen sich Jenni gefühlt hatte, als ihre kleine Schwester sich hinter Jesus zurückgezogen hatte.
Der Motor erstarb.
»Also los«, sagte Aaron. Seine Stimme klang entschlossen, doch seine Hand legte sich nicht auf den Türgriff.
»Wir sind da«, flüsterte Jenni Miro zu.
Der Wagen neben dem Haus musste Markus und Ina gehören. Jenni war erleichtert, keine weiteren Fahrzeuge zu sehen. Sie wusste, dass ihr Vater nicht kommen würde – falls er überhaupt eingeladen war. Er fühlte sich viel zu wohl in Gesellschaft der Whiskyflaschen, Ameisen und Spinnen in seinem Haus, das nach dem Tod der Mutter langsam, aber sicher in den Naturzustand zurückkehrte.
Vor Lisas Anwesenheit hatte Jenni sich mehr gefürchtet.
Lisa war bestimmt eingeladen worden, das stand fest. Aber vielleicht würde sie nicht kommen. Vielleicht wollte sie einfach vergessen und würde die Gelegenheit, ihren Exmann und dessen junge Frau zu quälen, ungenutzt lassen. Vielleicht hatte sie ihre Verbitterung überwunden und eine neue Seite in ihrem Leben aufgeschlagen. Möglich war wohl alles.
»Hallo«, sagte Ina, als Jenni Miro aus dem Wagen half.
Sie hielt die Arme immer noch in die Hüften gestemmt und ließ Jenni nicht aus den Augen, obwohl Aaron hüstelte und die Tür zuschlug.
»Hallo«, antwortete Jenni und lächelte.
Miro quasselte verdrießlich vor sich hin. Um ihn zum Schweigen zu bringen, fragte Jenni ihn, wo er seinen Clone-Wars-Comic gelassen habe. Dann trat sie auf Ina zu, wischte sich dabei die Handflächen an den Oberschenkeln ab, als wären sie schmutzig. Zum Glück machte Ina den ersten Schritt, und sie umarmten sich lange. In einer besseren Welt hätten sie es dabei belassen und den anderen freistellen können, ihre Angelegenheiten zu regeln, wie sie wollten. Es war seltsam, Ina nach so langer Zeit zu berühren, ihre Wärme und die Knochen unter ihrer Kleidung zu spüren.
»Eine anstrengende Fahrt, oder?«, fragte Ina dann.
Ihre Augen waren trocken, auf ihrem Gesicht lag ein reserviertes Lächeln.
»Es ging«, antwortete Jenni und warf einen Blick auf Aaron. »Auf die zweite Fähre hätte ich verzichten können.«
»Daran gewöhnt man sich«, sagte Ina. »Man gewöhnt sich an alles.«
Als Aaron näher kam, beugte Ina sich rasch zu Miro hinab.
»Na, hallo«, sagte sie fröhlich. »Wer bist du denn?«
Miro blätterte fahrig und mit gerunzelter Stirn in seinem Clone-Wars-Heft.
»Scheiße, ich schlag dem auch in die Fresse, wenn ich mal …«
Jenni fasste ihn härter als beabsichtigt an der Schulter und verbot ihm zu fluchen. Aaron stand inzwischen so nahe bei Ina, dass sie ihn nicht länger übersehen konnte.
»Guten Abend«, sagte er und streckte die Hand aus. »Wir haben uns lange nicht gesehen.«
Jenni ärgerte sich über die förmliche Begrüßung, darüber, dass Aaron den Besuch
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