Schatteninsel
Abort erklärten Stelle gruben, wurde dem Apotheker tatsächlich gedroht, man werde ihn töten, sofern es ihm nicht gelinge, alle Trockenfleischstücke auszugraben, die er Jakob gegeben hatte.
Der Wind heulte tagaus und tagein. Segel sahen nur diejenigen, denen der Verstand bereits abhandengekommen war. Der graue Himmel rollte vom Horizont heran wie der Rauch eines am Rand der Welt wütenden Feuers.
Eines Nachts schrak Jakob plötzlich aus dem Schlaf. Er sah, dass die Feuerwache am Lagerfeuer eingeschlafen war. Ein langer Speichelfaden lief dem Mann über das Kinn auf die Brust. Die Flammen knisterten friedlich, es war plötzlichunnatürlich windstill. Jakob drehte sich um und blickte aufs Meer.
Im Mondlicht war nur der Kopf des sich nähernden Wesens zu sehen, den Körper verbarg das Wasser. Jakob atmete schneller, er dachte an die Dämonen, die in den Wirrnissen der letzten Tage herrenlos umherstreiften. Doch er blieb sitzen, die Glieder an den Brustkorb gepresst.
Ein Elch stieg rasselnd auf die Uferfelsen, aus seinem Fell strömte Wasser, sein Atem dampfte. Das Tier blieb stehen und wandte den Kopf zum Feuer. Jakob kämpfte gegen die Versuchung an, die Männer zu wecken. Vom Fleisch des Elches hätten sie lange leben können. Auf der kleinen Insel wäre es nicht schwer gewesen, das Tier einzukreisen und mit Speeren zu durchbohren. Der Elch hob die Nüstern in den Wind und witterte, dann kehrte er ins Wasser zurück und schwamm davon. Jakob sah ihm nach, bis der gehörnte Kopf in der Dunkelheit verschwand.
Später wurde Jakob von Wolfsgeheul geweckt. Es kam von weit her, möglicherweise trug der Wind das Geräusch vom Festland her über das nahezu still daliegende Meer. Zwei der Seeleute wurden auf das Geheul aufmerksam.
»Wenn das Meer zufriert«, sagte der eine, »kommen sie her.«
Der andere lachte freudlos.
»Dann finden sie nur noch Knochen vor.«
»Falls noch so viel Zeit bleibt, dass das Meer zufriert«, murmelte Jakob, »dann springen, krauchen und krabbeln Wesen darüber, die ihr euch nicht einmal vorstellen könnt.«
Die Männer blickten ihn hasserfüllt an.
»Das Meer friert zu, Hexer«, sagte der eine. »Versuch ja nicht, uns mit deinen Geschichten von Ungeheuern zu erschrecken.«
Wenn so viel Zeit bleibt, dass das Meer zufriert , wiederholte Jakob bei sich.
Dann dachte er an das langsame Zufrieren des Meeres. Er dachte an die leichten Schritte der Wölfe auf dem Eis, sie würden Spuren hinterlassen, vom Wind bald verweht. Die Wölfe würden kommen. Sie würden die Knochen abnagen, würden sich eines Tages zum Sterben unter einen Baum legen, weil sie nicht die Kraft hätten, dem Rudel zu folgen. Im Frühjahr würden die jungen Triebe sich durch ihre Knochen schieben. Die Wolfsmütter würden ihre Jungen lecken. Und wenn doch alles weiterging?
Bei Sonnenaufgang geriet Jakob ohne erkennbaren Anlass in einen Zustand heftigster Erregung. Er weinte und schrie. Warum zerreißt der Mantel der Welt nicht endlich? Warum setzen die Marionetten dieses kläglichen Schauspiels ihre Possen immer noch fort? Warum hievt Satans Flaschenzug die Sonne an den Himmel?
Warum hielt der Herr den Menschen nicht endlich den großen Spiegel vor, dessen Licht so blendend war, dass die sündige Welt ins Grab rappelte wie ein Körper, den der Blitzschlag seines Fleischs beraubt hat?
D ie Ansage des Navis, sie hätten ihr Ziel erreicht, durchbrach die Stille. Aaron hielt, legte die Hand auf den Schlüssel, ließ den Motor aber laufen.
Miros Jammern war verstummt, als Jenni ihn fest in die Arme genommen und Aaron angebrüllt hatte, er solle allein weiterfahren, sie werde mit Miro zu Fuß zur Fähre zurückgehen. Eine leere Drohung. Letztlich gab Jenni immer nach. Den Rest der Strecke hatten sie schweigend zurückgelegt. Die Rötung auf Miros Wange war bereits während ihres Streits verblasst. Man konnte sie übersehen, wenn man wollte. Schlimmer war Miros Schweigen. Der Junge redete immer, oft auch im Schlaf. Manchmal hatte Jenni stundenlang zugehört, hatte versucht, die Worte zu verstehen, als könnte sie in der Traumrede den Schlüssel finden, der ihr helfen würde, Miro glücklich zu machen.
Das Auto brummte. Sie blieben stumm.
Das große zweistöckige Haus, das vor ihnen aufragte, war das Erste auf dieser Reise, was bei Jenni deutliche Erinnerungen weckte. Im Lauf der Jahre schien sich hier nichts verändert zu haben. Markus hatte es ursprünglich als Sommerhaus und Arbeitsplatz gekauft, als sein obsessives
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