Schatteninsel
Murmeln. Eine im Regen verschwimmende Gestalt.
Ina setzte zurück, wendete und versuchte, aus der Warteschlange auszuscheren. Hinter ihr wurde wütend gehupt. Als sie die Schlange passiert und die Straße erreicht hatte, trat sie das Gaspedal durch.
−
Jenni saß auf dem Fahrersitz. Der Motor lief. Miro war angeschnallt. Er schluchzte und umklammerte seine Tasche mit beiden Händen.
Jenni brauchte nur den Fuß von der Kupplung zu nehmen. Bald wären sie am Anleger. Am helllichten Tag waren dort sicher so viele Besucher vom Festland, dass niemand sie anhalten könnte. Sie würden die Insel verlassen, und sobald sie das andere Ufer erreicht hatten, würde Jenni sich bei irgendwem ein Handy ausleihen und die Polizei anrufen. Man konnte sie nicht ins Gefängnis stecken, wenn die ganze Geschichte aufgeklärt wurde. Selbstverteidigung oder etwas in der Art. Die Kupplung kommen lassen und los. Auf dem Festland würde sich alles klären, ganz normal und von selbst.
Jenni konnte den Blick nicht vom Haus lösen. Das Fenster von Markus’ Zimmer war im Erdgeschoss. Hinter der dunklen Scheibe war eine Gestalt zu sehen.
Instinktiv stellte Jenni den Motor wieder ab. Etwas in ihr hielt es für selbstverständlich, dass sie ins Haus zurückkehren und etwas tun musste. Sie starrte die reglose Gestalt an. Erst nach einer Weile merkte sie, dass kalte Luft in den Wagen wehte. Sie drehte den Kopf und sah die offene Autotür und Miro, der sich aus dem Sicherheitsgurt wand.
»Nein«, murmelte sie, bekam den Kragen zu fassen und zog den Jungen zurück auf seinen Sitz.
»Leck mich am Arsch, du verdammte …«
»Tür zu«, sagte Jenni und packte den Kragen fester.
Miros Protest verwandelte sich in resigniertes Wimmern. Er reckte sich nach dem Griff und zog die Tür zu. Wenn seine Mutter sich so aufführte, war es ratsam zu gehorchen, das wusste er.
»Entschuldigung«, sagte Jenni. Zu Miro und zu dem Haus und zu der Gestalt am Fenster.
Sie ließ den Motor wieder an. Der Wagen setzte sich ruckelnd in Bewegung. Gehorchte ihren betäubten Gliedmaßen.
Als sie das Grundstück verlassen hatten, glitt der Wagen wie von selbst über die kurvenreiche Straße. Jenni war irgendwo anders, weit weg von der Frau, die die Ereignisse lenkte.
−
Ina fuhr aus dem Halbschlaf, in den das Surren des Motors und die gleichmäßige Bewegung der Scheibenwischer sie versetzt hatten. Die Scheinwerfer und die rote Farbe des entgegenkommenden Wagens blieben als Nachbild auf ihrer Netzhaut haften. Sie warf einen Blick in den Rückspiegel. Der Wagen entfernte sich rasch, war nur noch ein farbiger Fleck hinter der verregneten Scheibe. Ina war besorgt, doch dann sagte sie sich, dass es sich um einen Besucher handeln müsse, der sich verfahren hatte und sich nun beeilte, um die Fähre nicht zu verpassen. Sie heftete den Blick wieder auf die Straße. Im Grunde war ohnehin alles egal. Ina wusste längst, dass wieder alles verloren war, dass es von nun an ganz anders weitergehen würde, als sie wollte. Das passierte ihr immer.
Als Ina vor dem Haus hielt, sah sie sofort, dass die Haustür offen stand. Es regnete hinein, der Teppich und die Schuhe in der Diele würden nass werden. Ina stieg hastig aus, lief ins Haus und zog die Tür zu. Überprüfte das Ausmaß des Schadens. Sie musste alles so schnell wie möglich trocknen, damit es nicht zu riechen begann. ImBadezimmer im Erdgeschoss lag mitunter ein feuchter Geruch, der an einen Erdkeller erinnerte. Es war nicht leicht, ein ganzes Haus in Schuss zu halten.
Als sie weiterging, sah sie das Durcheinander. Die blutigen Abdrücke an der Wand und am Rahmen der Küchentür. Agnetas Anblick konnte sie nicht ertragen. Alles war verdorben, wieder einmal.
Instinktiv ging Ina in Markus’ Zimmer. Das Bett war leer. Sie hob die zusammengeknüllte Bettdecke vom Boden auf, strich sie glatt und ließ sich auf den weichen Stoff fallen, vergrub das Gesicht darin.
Eine Weile schrie sie nur. Als sie das Gefühl hatte, bald das Bewusstsein zu verlieren, stand sie auf und kehrte in die Diele zurück, öffnete die Tür, blickte über den leeren Hof. Die schwankende Bewegung des Regens, wie flatternde Haare. Ina schloss die Tür, legte die Stirn an das kalte Holz. Dann ging sie ins Wohnzimmer, ängstlich darauf bedacht, nicht in die Küche zu schauen.
Auf dem Tisch lag ein zerknittertes Blatt Papier, über dessen Ränder sich rotbraune Fingerabdrücke zogen. Ina ging näher heran, beugte sich über den Tisch. Über dem gedruckten
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