Schatteninsel
sie monoton.
Sie nahm den Bogen aus der Tasche, den sie in Markus’ Arbeitszimmer gefunden hatte, und faltete ihn mit zitternden Fingern auseinander. Die Buchstaben zitterten vor ihren Augen. Ihre Daumen hinterließen rote Abdrücke aufdem vergilbten Papier. Jenni ging ins Wohnzimmer, legte das Blatt auf den Tisch, strich es glatt und wandte sich der Diele zu. Sie strich Miro im Vorbeigehen über den Kopf und begann, die Jacken zu durchwühlen, die an der Garderobe hingen.
»Tante Ina mag es nicht, wenn wir …«
»Ina kann zur Hölle fahren«, sagte Jenni und zog ein Schlüsselbund aus der Tasche des grünen Wachstuchmantels. »Wir gehen jetzt. Komm!«
Miro rührte sich nicht vom Fleck. Sein Kinn zitterte. Jenni sah, dass sie ihm Blut auf die Haare gestrichen hatte. Sie ging zu ihm, packte ihn am Jackett und zog ihn mit sich. Miro schrie und zappelte.
»Ich will hier nicht weg, verdammte Scheiße …«
Jenni versetzte ihm eine Ohrfeige. Miro begann zu weinen, doch sie kümmerte sich nicht darum. Sie schleppte den Jungen zur Haustür und stieß sie so heftig auf, dass die Angeln knirschten. Bevor sie das Haus verließen, blickte Jenni noch einmal zurück. Sie sah den Spiegel. Im Spiegel eine wildgewordene Frau, die ein Kind gewaltsam aus dem Haus schleifte und frisches Blut auf den Knöcheln und im blassen Gesicht hatte. Jenni warf die Tür zu und zerrte Miro zum Wagen.
−
Ina betrachtete die näher kommende Fähre, deren Umrisse die Scheibenwischer immer wieder für einige Sekunden aus dem gelblichen Regendunst hervorholten.
Seit Lisa ihr erlaubt hatte, Markus zu pflegen, hatte Ina auf den Moment gewartet, in dem sich alles fügen würde. Es musste doch zwischen den Bedürfnissen Gottes unddenen der Menschen eine Art Kompromiss geben, bei dem alle ihren Teil erhielten.
Ina erinnerte sich an Agnetas ersten Besuch. Die alte Frau hatte ihr Vieles erklärt, was ihr bis dahin beklemmend und unbegreiflich erschienen war. Agneta hatte erzählt, dass in Markus’ wirren Reden, die Ina für Halluzinationen, für eine Folge der Gehirnschädigung gehalten hatte, das Samenkorn einer großen Wahrheit lag. Als Markus auf die Insel gekommen war, hatte er neues Licht in die Gemeinde der Wahren Gläubigen gebracht, die bereits seit Jahrzehnten in Auflösung begriffen war und dahinschmolz, da selbst die Glaubensstärksten sich auf den Pfad der weltlichen Weisheit verirrt hatten. Als Markus erzählt hatte, dass er Mörts Nachkomme war, hatte sich alles zum Guten gewendet. Doch dann hatte der Teufel den neuen Propheten niedergerungen.
Nun war es Ina gewesen, die Licht in das Dunkel brachte. Sie hatte Agneta erzählt, was Markus gesagt hatte, als er nach dem Unfall zum ersten Mal gesprochen hatte.
Markus hatte einen Sohn. Ina erinnerte sich an Agnetas Miene, an die Tränen in ihren Augen. Ina hatte Licht gebracht.
Die Fähre war schon beinahe am Anleger. Ina ließ den Motor an.
Nach der lichtbringenden Botschaft hatte sie die Einladung ausgesandt, die den Sohn des Propheten auf die Insel geholt hatte. Jenni, die ein potenzielles Problem darstellte, hatte zum Glück endlich eingesehen, was das Beste für alle war. Für Gott, für die Menschen. Ina kannte ihre Schwester. Bei aller Weltlichkeit besaß Jenni doch ein liebendes Herz. Das hatte Ina immer gewusst, auch in dunklen Momenten, von Kind an. Ich kenne doch meineSchwester , dachte Ina. Wie andächtig war Jenni damals als Lucia aufgetreten, vor langer Zeit, obwohl sie anfangs nur gehöhnt und gespottet hatte.
Die Fähre senkte ihre Rampe. Die Scheibenwischer fuhren hin und her. Mal sah man klar, dann wieder versank alles im Nebel.
Ich kenne doch meine Schwester.
Die Rampe war an ihrem Platz, und der erste Wagen fuhr auf das Deck. Ina vergewisserte sich im Spiegel, dass niemand Anstalten machte, sie zu überholen. Die Leute vom Festland hatten es mitunter so eilig, dass es zu Unfällen kam.
Ich kenne doch meine Schwester.
Mal sah man klar, dann wieder versank alles im Nebel. Ina näherte sich der Rampe. Sie dachte an Jenni, die im Bett lag und um das Medikament bat. Die den Namen auf einen kleinen Zettel schrieb, die ihr aufrichtig dankte.
Ich kenne doch meine …
Unmittelbar vor der Rampe trat Ina auf die Bremse. Langsam ließ sie den Kopf auf das Lenkrad sinken. Hinter ihr hupte jemand. Menschen vom Festland. Weltlich, trügerisch. Ina klagte leise, presste die Stirn fest auf das Lenkrad. Sie schrak erst auf, als jemand ans Fenster klopfte.
Undeutliches
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