Schattenkampf
Aber können wir das mal als gegeben annehmen?«
Nach kurzem Zögern nickte Washburn. »Aus meiner Sicht schon.«
»Gut, dann wäre die entscheidende Frage: Warum hat er es getan?«
»Keine Ahnung.«
»Sind Ihnen irgendwelche Spekulationen zu Ohren gekommen?«
Washburn schüttelte den Kopf. Mittlerweile bereitete das Ganze auch ihm Kopfzerbrechen. »Irgendwie kam das nie
richtig zur Sprache, oder?« Die Frage war an ihn selbst gerichtet. Er wandte sich Hardy zu. »Obwohl alle ganz selbstverständlich davon ausgingen, dass Scholler sie umgebracht hatte, kann ich mich nicht erinnern, dass sich jemals jemand die Mühe gemacht hat, über seine Gründe genauer nachzudenken.« Er nahm einen Zug von der Zigarre. »Ich glaube, dem lag mehr oder weniger die Annahme zugrunde, dass es mit etwas zusammenhing, was im Irak passiert war und was wir nie herausfinden würden. Vielleicht irgendeine alte Rechnung, die er begleichen wollte, oder er hasste die Iraker ganz generell für das, was sie ihm angetan hatten. Und dazu kam, dass er die Morde Nolan anhängen und damit seinen Nebenbuhler ausschalten konnte. Für einen Psychopathen, als den Evan Scholler einige Leute betrachteten, war das eine tolle Gelegenheit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.«
»Aber ganz konkret hat diese Fragen niemand gestellt?«
»Offensichtlich nicht.«
»Obwohl sich das FBI der Sache angenommen hatte?« Das war nicht wirklich eine Frage. »Sieht Ihnen das nach dem FBI aus, wie wir es alle schätzen und lieben?«
Jetzt hatte eindeutig auch Washburn Feuer gefangen. Seine Augen leuchteten vor Aufregung. »Wenn Nolan tatsächlich die Khalils ermordet hat«, sagte er nachdenklich, »hätte mit Sicherheit jeder Angehörige der Khalil-Sippe - gerade, wo im Irak die Familienzusammengehörigkeit eine extrem wichtige Rolle spielt - nicht nur ein Motiv, sondern sogar die Pflicht gehabt, ihn zu töten.«
Hardy stand inzwischen geradezu unter Strom. Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Wie hoch ist Ihrer Meinung nach die Wahrscheinlichkeit, dass das FBI nie mit einem der Khalils gesprochen hat?«
»Gleich null. Doch jetzt, wo Sie es sagen: Alle Vernehmungsprotokolle, die wir erhalten haben, kamen von der Polizei von Redwood City. Und die hat das sehr nach Schema F durchgezogen.«
»Das hieße, das FBI hat es der örtlichen Polizei überlassen, in einem potenziellen Terrorismusfall die Zeugen zu befragen? Das kann ich mir nicht vorstellen.«
Washburn nickte und nickte. »Sieh mal einer an«, sagte er mit unverhohlener Schadenfreude in der Stimme. »Ein typischer Fall von Brady.«
Hardy versuchte seine Begeisterung im Zaum zu halten. »Allerdings.«
Dabei bezogen sich die beiden auf einen sogenannten Brady-Verstoß. In dem Verfahren Brady gg. Maryland hatte der Supreme Court entschieden, dass ein Angeklagter ein Recht auf sämtliche Beweise im Besitz der Anklage hatte, die möglicherweise seine Schuld in Zweifel stellten, und zwar unabhängig davon, ob sie schließlich beim Prozess verwendet wurden oder nicht. Die Anklage war ohne Einschränkungen dazu verpflichtet, sämtliche Hintergrundinformationen, Zeugenaussagen, Beweise und Vernehmungsprotokolle herauszugeben - alles, was den Angeklagten entlasten konnte. Hielt die Anklage irgendetwas davon zurück, und bestand berechtigter Grund zu der Annahme, dass das zurückgehaltene Material das Vertrauen in einen Schuldspruch untergraben würde, stellte dies eine hinreichende Basis für die Revidierung einer Verurteilung dar. Natürlich fand sich in den Unterlagen des Gerichts nie ein Beweis für einen solchen Verstoß. Das Entscheidende dabei war, dass die Anklage dieses Beweismaterial zurückhielt und die Verteidigung deshalb, wenn überhaupt, erst nach dem Prozess Wind davon bekam.
Das eröffnete völlig neue strategische Möglichkeiten.
Sowohl Hardy als auch Washburn war der Sachverhalt nur zu deutlich bewusst. Falls das FBI tatsächlich Zeugen zu den Khalil-Morden vernommen und entweder die Zeugen oder die Aussagen oder beides nicht der Anklage zur Verfügung gestellt hatte, die wiederum verpflichtet gewesen wäre, dieses Material an Evan Schollers Verteidiger weiterzuleiten, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man einen Brady-Verstoß geltend machen konnte. Was die Sache noch schöner machte, war, dass Mills nicht einmal etwas von den zurückgehaltenen Beweisen gewusst haben musste. Das FBI galt rechtlich als Bestandteil des Anklageteams, und Mills war als
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