Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
vorliegen.«
Ihre Augen wurden noch größer.
»Hör mal zu«, sagte Inger Johanne und seufzte vernehmbar. »Dieser Polizist ist noch schrecklich unerfahren. Das hast du doch gestern Abend gesehen.«
» Ich hab gestern Abend überhaupt nichts gesehen«, schrie Ellen, sank langsam in die Hocke und verschränkte die Hände im Nacken. »Ich habe nur gesehen, dass Sander tot war. Mein Junge ist tot, Inger Johanne. Er ist von einer Trittleiter gefallen, und ich ...«
Das Weinen ging in ein lang gedehntes Geheul über. Inger Johanne merkte, dass sie eine Gänsehaut bekam, und sie hatte wirklich keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollte. Ellen erschien ihr so gut wie unzurechnungsfähig, und es wäre vermutlich sinnlos, ihrer Hysterie mit Vernunft zu begegnen.
»Aber ich habe mitbekommen, was geschehen ist«, sagte sie dennoch gelassen. »Und das Auffälligste an diesem Polizisten war, dass er das erst seit sehr kurzer Zeit ist. Glaub mir. Er hat die Schule besucht und allerlei gelernt. Sie lernen eben, dass sie beim Tod eines Kindes Untersuchungen anstellen müssen, im Hinblick auf ...«
Das Gejammer war nicht auszuhalten.
Inger Johanne ließ sich auf ein Knie nieder. Sie legte Ellen vorsichtig eine Hand auf die Schulter.
Als Ellen Mohr noch Ellen Krogh gewesen war, hatte ihr Körper Kurven gehabt. Mit den Jahren war sie dünn geworden und am Ende mager. Drei Fehlgeburten hatten ihr fast alle Kraft genommen, bis sie dann mithilfe einer Spezialklinik ein lebendes Kind zur Welt gebracht hatte. Sander wog 4850 Gramm, als er per Kaiserschnitt auf die Welt kam, und der Rest von Ellens einst üppigem Körper schien mit ihm verschwunden zu sein. Ellen trainierte viermal die Woche, das ganze Jahr hindurch, und sah inzwischen aus wie eine Marathonläuferin. Sehnig, stark und klapperdürr. Inger Johanne spürte ihr Schlüsselbein wie einen Stock unter ihrer Hand.
»Das ist nur Routine«, sagte sie leise und versuchte, Blickkontakt zu Ellen aufzunehmen. »Können wir nicht ins Wohnzimmer gehen und über alles reden?«
Das Geheul verstummte. Ellen richtete sich langsam und unsicher auf. Sie fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Haut unter den Augen, aber das half nichts, die Schminke zeichnete schwarze Falten auf die hohen Wangenknochen.
Wortlos ging sie die Treppe hoch. Inger Johanne folgte ihr.
Im Wohnzimmer war aufgeräumt worden. Alle Spuren vom Vortag, als für das Fest gedeckt gewesen war, waren verschwunden. Der Esstisch war leer, abgesehen von einer gefüllten Obstschüssel aus buntem Glas. Durch die Türen einer Vitrine neben den nach Südwesten gerichteten Fenstern konnte Inger Johanne sehen, dass alle Gläser ordentlich zurückgestellt worden waren, in Reih und Glied von oben bis ins unterste Fach. Die kleinen Gestecke vom Vortag waren verschwunden. Die größeren Sträuße in den identischen Vasen waren mit Gartenrosen aufgefrischt worden und standen zu beiden Seiten des Kamins.
»Jon hat heute Nacht aufgeräumt«, sagte Ellen, als ob sie sofort bemerkt hätte, wie sehr Inger Johanne darüber staunte, dass nach den Ereignissen des Vortages jemand an solche Dinge gedacht hatte. »Wir konnten beide nicht schlafen. Ich bin nur ruhelos hin und her gelaufen, aber du kennst ja Jon.«
Eigentlich nicht, dachte Inger Johanne zu ihrer eigenen Überraschung.
»Er ist so organisiert«, sagte Ellen jetzt. »Er muss immer jede Sekunde jedes einzelnen Tages ausnutzen. Das Essen von gestern hat er eingefroren. Jon ist so ...«
Sie ließ sich in einen der beiden Sessel sinken, die vor den Fenstern standen.
»Wir haben das mit dem Terroranschlag gar nicht so richtig mitbekommen. Aber heute Morgen war dann Jons Mutter hier und hat uns alles erzählt.«
»Ist vielleicht auch besser so«, meinte Inger Johanne und setzte sich in den anderen Sessel. »Es war wirklich ein grauenhaftes Wochenende. Hast du überhaupt geschlafen?«
»Ein bisschen. Heute Vormittag. Helga, Jons Mutter, hatte Schlafmittel dabei. Sie ist so ... praktisch, diese Helga. Genau wie Jon.«
Ellen nahm das Mobiltelefon, das zwischen ihnen auf einem kleinen Beistelltisch lag. Es waren offenbar keine Nachrichten eingegangen, denn sie schüttelte den Kopf und knallte es wütend wieder auf den Tisch.
»Wenn Jon nur endlich nach Hause kommen könnte«, jammerte sie und griff sich an den Kopf. »Ich kann diese Unsicherheit einfach nicht ertragen!«
Inger Johanne versuchte, sich in dem riesigen Sessel bequemer hinzusetzen.
»Kannst du mir nicht
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