Am Anfang ist die Ewigkeit
»Der Ring deines Vaters ist verschwunden! Das war bestimmt Alex, dieser furchtbare Kerl! Der hat ihn geklaut, ganz sicher.«
Sasha stand in der Tür zum Schlafzimmer und sah zu, wie ihre Mutter Schuhschachteln und Kommodenschubladen durchwühlte. Sie überlegte hin und her, ob sie Mum verraten sollte, dass nicht Alex Dads Ring geklaut hatte. Die Hand tief in der Tasche ihrer Jeans vergraben, stand sie da und hatte die Finger fest um das kreisrunde Schmuckstück geschlossen, das ihr mittlerweile so vertraut geworden war. Seit über einer Woche trug sie den Ring bei sich. Seit dem Tag, an dem sie ihn zu einer Hellseherin namens Mercy Jones in Haight-Ashbury gebracht hatte. Es hieÃ, Mercy könne mithilfe von Gegenständen, die ein bestimmter Mensch tagtäglich getragen hatte, Kontakt zu dessen Seele aufnehmen.
Noch eine Sackgasse. Sie war sich so sicher gewesen, dass die Hellseherin ihr sagen konnte, wer ihren Vater ermordet hatte. Aber Mercy hatte bloà über Sashas Aura geschwafelt, wie rein sie sei und wie wunderschön und dass sie ein göttliches Licht ausstrahle â die vollkommenste Aura, die sie je gesehen hätte. Mercy hatte auch gesagt, dass Sasha ein auÃergewöhnliches Leben bestimmt sei. Aber kein Wort über Dads Schicksal. Angeblich hatte sie keinen Kontakt zu dem Ring bekommen, weil Dad ihn schon zu lange nicht mehr getragen hatte, bevor er gestorben war.
Hundert Dollar ärmer hatte Sasha irgendwann wieder auf der StraÃe gestanden, umhüllt von einer süÃlichen Weihrauchwolke, mit dem Ring in der Tasche und der Versicherung im Ohr, dass sie ein ganz besonderer Mensch sei. Aber was Dads Mörder betraf, hatte sie noch immer nicht den Hauch einer Ahnung.
Mum fluchte auf Russisch vor sich hin. AuÃer sich vor Wut riss sie jetzt Höschen, Boxershorts und T-Shirts aus den Schubladen. »Ich hätte ihm den Ring niemals zeigen dürfen. Gott sei Dank habe ich wenigstens das Gemälde in Sicherheit gebracht. Wenn er das auch noch geklaut hätte â¦Â«
»Welches Gemälde?«
Mum hielt kurz inne, als müsste sie erst überlegen, was sie darauf antworten sollte. Dann durchwühlte sie weiter Dads Sockenschublade. »Das ich schon vor Jahren in einem alten Haus in Wladiwostok gefunden habe.«
Sasha liebte Kunst über alles. Sie ging wahnsinnig gern in Museen und interessierte sich sehr für die Bilder der alten Meister. Wenn Mum ein altes Gemälde besaÃ, warum hatte sie es bisher mit keinem Wort erwähnt? »Kann ich es sehen?«
»Im Augenblick nicht.« Plötzlich hielt sie inne und richtete sich auf. Sie kniff die dunklen Augen zusammen und schaute Sasha an. »Du hast Alex von Anfang an nicht gemocht. Du hast immer gesagt, dass er böse ist. Wie bist du darauf gekommen?«
»Bloà so ein Gefühl. Er ist mir irgendwie unheimlich.« In Wahrheit war es aber noch schlimmer. Jedes Mal wenn er ihre Mutter besucht hatte, war Sasha schlagartig übel geworden. Alex Kasamov war ein Geschöpf des Bösen.
Sasha drehte den Ring zwischen den Fingern und ging zum Nachttisch neben dem Bett. Sie zog die Schublade auf und tat so, als würde sie nach dem Ring suchen. Dann richtete sie sich auf, drehte sich um und hielt ihn ihrer Mutter hin. »Hier ist er doch. Wahrscheinlich hast du nur vergessen, dass du ihn in die Schublade gelegt hast.«
Ihre Mutter sah ungeheuer erleichtert aus. Sie schnappte sich den Ring und nahm ihn sehr sorgfältig unter die Lupe.
Sasha wandte sich zum Gehen. Vor einem Jahr, als Dad noch am Leben war, hätte Mum sie einem ausführlichen Verhör unterzogen, um zu erfahren, wo sie hinwollte. AnschlieÃend hätte sie ihr unmissverständlich klargemacht, dass sie auf keinen Fall zu einem mitternächtlichen Treffen gehen durfte. Jetzt schien es überhaupt keine Rolle mehr zu spielen, wo Sasha hinging oder was sie machte. Das Einzige, was Mum noch interessierte, war ihr Job im AuÃenministerium â und Dads Ring.
Sasha lieà den unberechenbaren Fahrstuhl links liegen und nahm die Treppe, die fünf Stockwerke hinunter ins Erdgeschoss führte. Ein leichter Nebel hatte sich über Oakland gelegt, die Luft war feucht und kühl. Vor Kälte und Aufregung zitternd, ging Sasha auf einen blauen Toyota-Geländewagen zu, der am Ende des Häuserblocks parkte.
Sie hatte die Hellseherin aus einer verrückten und verzweifelten Laune heraus
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