Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
Holme sah so unfertig aus wie ein Zehnjähriger.
»Vorläufig müssen Sie eben Ihr Bestes tun«, sagte sie dann. »Aber alles läuft über mich. Okay? Machen Sie einen Plan. Aber unternehmen Sie nichts, ohne sich bei mir grünes Licht zu holen.«
»Natürlich nicht«, sagte er schnell und drehte sich zur Tür, um seine roten Wangen zu verbergen. »Bin in einer Stunde wieder da.«
Seine Wangen glühten. Er hatte mit keinem Wort erwähnt, dass wegen Insiderhandels gegen Jon Mohr ermittelt wurde. Der ältere Fall ging vor, glaubte er zu wissen, und Henrik Holme wollte nicht riskieren, dass ihm irgendwer vom Wirtschaftsdezernat seine wohlverdiente Akte wegnahm. Die andere Untersuchung lief zudem erst seit wenigen Tagen, und in all dem Chaos nach dem Anschlag würde an der Wirtschaftsfront so schnell nichts passieren.
Aber das war noch nicht alles.
Er zog die Tür hinter sich zu, ohne sich umzudrehen.
Am Vortag hatte er Sanders Großmutter ein wenig ausgehorcht. Er hatte niemanden um Erlaubnis gebeten, und das Gespräch war auch nicht gerade ein Erfolg gewesen.
Ganz im Gegenteil, musste er zugeben.
Aber das brauchte er der Polizeijuristin ja wirklich noch nicht zu verraten.
Als Inger Johanne sich dem Wohnblock in Vinderen näherte, bereute sie ihren Entschluss längst. Sie hätte machen können, was sie wollte, überall hinfahren, den freien Tag am Strand oder im Wald genießen oder den Vormittag ganz einfach mit einem guten Buch auf dem Balkon verbringen. Sie hätte Mut für den verdammten Test sammeln können. Wenn sie in dieser Angelegenheit noch Entscheidungsfreiheit haben wollte, musste sie sich so schnell wie möglich Gewissheit verschaffen. Inger Johanne hatte einen ganzen unbenutzten Tag für sich, aber sie hatte Helga Mohrs Mitteilung nicht verdrängen können. Die SMS hatte sie nervös und neugierig gemacht.
Der Block war niedrig, neu und anonym. Die Adresse klang teuer, und der bockige Golf fühlte sich offenbar fehl am Platze, als Inger Johanne am Zaun zwischen einem Audi TT und einem BMW 528 hielt.
Sie hatte den richtigen Eingang bald gefunden und drückte auf den Klingelknopf. Eine in die Wand eingelassene Linse verriet ihr, dass sie beobachtet wurde, und dann bat eine metallische Stimme sie hereinzukommen, während die Tür sich mit einem Klicken öffnete.
Im Treppenhaus roch es nach Zitrone. Hier und dort waren die Stufen noch nicht trocken. Der Fahrstuhl war aufgrund einer Reparatur außer Betrieb, erklärte ein handgeschriebener Zettel auf schlechtem Norwegisch. Aber Helga Mohr wohnte ohnehin im ersten Stock.
Sie hatte die Wohnungstür bereits geöffnet.
Helga Mohr passte perfekt zu ihrer Umgebung. Gepflegt und neutral, diskret gekleidet auf eine Weise, die zu jeder Frau zwischen sechzig und neunzig gepasst hätte. Sie war schlank, wie ihr Sohn, und die fast weißen Haare umschlossen kurz und füllig das schmale Gesicht. Sie könnte auch eine alte Dame aus der britischen Oberschicht sein, dachte Inger Johanne. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt, als die eisblauen Augen sie mit einem kurzen Unbehagen musterten, worauf Inger Johanne für einen Moment bereute, sich nicht eleganter angezogen zu haben. Die Hand der älteren Frau fühlte sich fest und trocken an, als sie Inger Johanne begrüßte.
»Kommen Sie herein«, sagte sie und führte Inger Johanne durch einen engen Gang ins Wohnzimmer, wo sie ihr mit einer Handbewegung einen Platz anbot.
Auf einem Glastisch zwischen zwei weißen Sofas stand ein silbernes Kaffeeservice. Heller, fast unsichtbarer Dampf stieg aus der Tülle der Kanne. Ohne zu zögern, goss Helga Mohr Kaffee in zwei hauchdünne Porzellantassen.
»Milch? Zucker?«
»Nein, danke.«
»Einen Keks?«
Die ältere Frau schob die Schale mit etwas, das amerikanischen Schokocookies ähnelte, näher zu ihr hin. Inger Johanne bekam plötzlich Lust auf Zucker, mochte jedoch nicht das Risiko eingehen, Krümel auf das kreideweiße Sofa zu streuen. Das ganze Zimmer sah aus wie ein Ausstellungsraum, mit Glas, Blumen und zerbrechlichen Gegenständen überall. Ihr war warm, und sie schüttelte kurz den Kopf.
»Dann komme ich sofort zur Sache«, sagte Helga Mohr.
Sie saß aufrecht da wie eine Königin, die Beine elegant übereinandergeschlagen und die Kaffeetasse in der Hand.
»Danke, dass Sie gekommen sind. Ich wusste nicht, an wen ich mich sonst wenden könnte. Ellen und Jon haben mir von Ihrem Beitrag zur Lösung der Fälle erzählt, an denen Ihr Mann arbeitet. Ellen sagt, dass
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