Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
Sie fast selbst als Polizistin gelten könnten.«
Inger Johanne öffnete den Mund, um zu protestieren, aber Helga Mohr hob ein klein wenig die Stimme und ließ keinen Einwand zu.
»Ich weiß es natürlich besser. Sie sind Forscherin. Kriminologin und Psychologin. Ihr Mann dagegen ist bei der Polizei. Kriminalpolizei, nicht wahr?«
Das war eigentlich keine Frage. Deshalb wartete sie auch nicht auf eine Antwort.
»Gestern hat mich ein junger Mann aufgesucht«, sagte sie und stellte die Tasse weg.
Das leise Klirren der Untertasse ließ Inger Johanne zögern, ihre eigene Tasse abzustellen.
»Ein Dilettant«, erklärte Helga Mohr energisch. »Aufgetakelt als Polizist, was er ja offenbar auch war, wenngleich wohl eher theoretisch.«
Inger Johanne konnte sich denken, von wem hier die Rede war.
»Ein Jüngelchen«, sagte Helga Mohr mit einem winzigen Schnauben. »Aber ein sehr unangenehmes Exemplar dieser Art. Er behauptet, im Fall von Sanders Tod zu ermitteln.«
Zum ersten Mal, seit Inger Johanne gekommen war, bemerkte sie bei der anderen eine gewisse Unsicherheit. Helga Mohrs Gesicht fiel in sich zusammen. Ihre Stimme zitterte ein wenig, als sie hinzufügte: »Als ob es da etwas zu ermitteln gäbe. Sander ist von einer Leiter gefallen. Tragisch und entsetzlich, natürlich, aber ...«
Sie strich sich ein unsichtbares Haar aus der Stirn. Ihre Unterlippe bebte ein wenig, dann riss sie sich zusammen, räusperte sich und holte tief Luft.
»Jon ist ein Nachkömmling«, sagte sie unvermittelt und lächelte unerwartet strahlend. »Das wissen Sie doch sicher?«
Auch diese Frage lud nicht zu einer Antwort ein.
»Bei seiner Geburt war ich einundvierzig. Meine Töchter waren schon zwölf und dreizehn. Jon war in vieler Hinsicht ...«
Wieder strich die Hand über die perfekte Frisur.
»Er war ein Geschenk. Wilhelm, mein Mann ...«
Ihr Blick streifte ein Ölgemälde über dem Gasflammenkamin, das Porträt einer kräftigen, fast majestätischen Gestalt vor einem dunklen Hintergrund aus schweren Portieren. Es passte nicht in das sonst so helle Zimmer, während zugleich die ganze Wohnung um den autoritären Blick arrangiert wirkte, der eher in einen Salon im viktorianischen England gepasst hätte.
»... hatte sich natürlich immer einen Sohn gewünscht.«
Inger Johanne versuchte, die Tasse an den Mund zu heben, aber sie merkte, dass ihre Hände zitterten.
»Wilhelm hatte leider nicht sehr lange Freude an Jon. Er starb, als unser Sohn erst zehn Jahre alt war. Aber das wissen Sie ja alles. Ihr wart ja zusammen auf dem Gymnasium, Sie und Jon. Sie waren gute Freunde, hat er mir erzählt. Ich kann mich daran zwar nicht erinnern, aber damals haben wir ja noch in dem Haus in Smestad gewohnt. Und ihr jungen Leute habt da meistens den Kellereingang genommen.«
Inger Johanne hatte nie einen Fuß in das Haus in Smestad gesetzt. In der Schule hatte sie keine Ahnung gehabt, wer Jon war, bis er dann den internationalen Essaywettbewerb gewonnen hatte. Aber auch danach nahm sie ihn kaum wahr, bis er nach seiner Metamorphose wiederauftauchte, als bevorzugter Verehrer von Ellen Krogh.
»Das ist jetzt ziemlich lange her«, sagte Helga Mohr langsam.
»Ja.«
»Ich bin jetzt vierundachtzig.«
Inger Johanne hätte nicht kommen dürfen. Die Fassade der alten Frau bekam immer häufiger Risse. Der Lippenstift, der noch vor zehn Minuten den Mund samtig und ein wenig voller hatte erscheinen lassen, klebte jetzt matt und glanzlos an den trockenen Lippen. Ihre Augen waren feucht geworden, und die Schatten darunter wurden deutlicher, wenn sie nicht redete.
»Womit kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte Inger Johanne und wagte endlich, ihre Tasse abzustellen. »Was wollen Sie denn eigentlich von mir?«
»Dieser Polizist«, begann Helga Mohr.
»Ja«, sagte Inger Johanne aufmunternd, als dann nichts mehr kam.
»Er hat gemeint, dass Jon Sander umgebracht haben könnte.«
»Hat er das gesagt?«
»Nein. Nicht direkt.«
»Aber indirekt?«
»Warum hätte er mich sonst fragen sollen, ob es in der Vorgeschichte ...«
Ihr Mund wurde noch schmaler, als ob sie trotzig ein Wort zurückhielte, das sich ihr aufdrängte.
»Verletzungen gab«, schlug Inger Johanne gelassen vor. »Mehr oder vielleicht größere oder häufigere, als temperamentvolle Jungen sie normalerweise haben.«
Helga Mohrs Augenbrauen waren mit dem Alter verschwunden. Sie hatte sie nachgezogen, ohne der Versuchung zu erliegen, zwei dünne, scharfe Linien zu zeichnen. Jetzt
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