Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
hoben sich die braunen wohlgeformten Bögen leicht arrogant, oder vielleicht nur überrascht.
»Ja«, sagte sie. »Genau das hat er gefragt. Eine idiotische Frage.«
»Warum das?«
»Wer kann denn sagen, was für einen temperamentvollen Jungen typisch ist? Sie haben Sander doch selbst gekannt und wissen, dass er für alle eine ziemliche Herausforderung war. Er hat sich mindestens zweimal den Arm gebrochen. Er klettert, springt, robbt, kriecht und lässt sich von allem fallen, was hoch ist. Sander hatte ADHS, und natürlich kann man nicht sagen, ob er seltener oder häufiger ärztliche Hilfe brauchte als andere Kinder, mit denen man ihn vergleichen könnte.«
In der Küche klingelte ein Telefon. Helga Mohr machte keine Anstalten, hinzugehen.
»Sie haben Sander doch selbst gekannt«, sagte sie noch einmal und starrte in die Luft, als ob sie in der Zeit zurückschaute.
»Nicht sehr gut«, sagte Inger Johanne vorsichtig. »Ich habe ihn einige Male gesehen, aber ich könnte nicht behaupten, dass ich ...«
»Sie haben selbst Kinder?«
»Ja.«
»Ein kleines Mädchen, soviel ich weiß, und noch eine Ältere? Ein etwas verwirrtes Kind, nicht wahr?«
Inger Johanne hatte viele Beschreibungen ihrer älteren Tochter gehört: Autistin. Asperger. Anders. Geistig zurückgeblieben. Seltsam.
Sie ertappte sich bei einem Lächeln. Das Telefon in der Küche quengelte nicht mehr.
»Ja«, sie nickte. »Etwas verwirrt ist manchmal eine gute Beschreibung. Nicht ganz wie andere Siebzehnjährige jedenfalls.«
»Verletzt sie sich oft?«
»Nein. So gut wie nie. Kristiane ist eine sehr vorsichtige junge Dame. Körperlich zurückhaltend, könnte man sagen.«
»Da sehen Sie!«, sagte Helga Mohr und hob vor lauter Eifer den Zeigefinger. »Alle Kinder sind verschieden. Dieser ... dieser leptosome Lümmel von Polizist hat gebohrt und gefragt, als ob er genau wüsste, wie oft ein Kind von unter zehn Jahren zum Notarzt gebracht werden darf.«
Wieder schnaubte sie, diesmal so empört, dass sie ein Taschentuch aus dem Ärmel der hellrosa Strickjacke ziehen musste.
»Aber ich habe ihn vor die Tür gesetzt. Das können Sie mir glauben, ich habe ihm die Tür gewiesen und ihm gesagt, dass er sich nie wieder hier blicken lassen soll.«
Inger Johanne konnte nicht begreifen, wieso dieser ungeschickte junge Polizist in diesem Fall überall herumtrampeln durfte. Natürlich konzentrierten sich die meisten Kapazitäten der Polizei gerade auf die Terroranschläge, aber es wäre doch besser, den Fall Sander einige Wochen liegen zu lassen, bevor man auf diese Weise alles verdarb.
»Ich glaube, Sie können ganz beruhigt sein«, sagte sie. »Das Ganze ist nur Routine.«
»Das glaube ich nicht.«
»Wieso nicht?«
»Er wirkte so überzeugt. Mein Mann hat mir einmal gesagt, dass es auf dieser Welt nichts Gefährlicheres gibt als einen überzeugten Polizisten.«
Inger Johanne blinzelte und versuchte, ihre Überraschung zu verbergen, indem sie sich neuen Kaffee einschenkte. Die Kanne war leichter, als sie erwartet hatte, und ihre jähe Bewegung führte dazu, dass sie kleckerte.
»Entschuldigung.«
Helga Mohr beugte sich vor, nahm zwei Servietten aus der Keksschale und wischte den Kaffee weg.
»Sie waren lange hinter ihm her«, fügte sie hinzu. »Die Polizei, meine ich. Damals hatten die Behörden beschlossen, alle zu ruinieren, die dieses Land aufgebaut hatten. Reksten und Jahre. Und viele andere. Auch meinen Mann. Wobei sie nicht sehr weit gekommen sind.«
»Aber was wollen Sie denn nun von mir?«, rief Inger Johanne. »Ich kann ja verstehen, dass Sie außer sich sind, und es tut mir schrecklich leid für Ihre Familie, aber ...«
»Sie müssen beweisen, dass mein Sohn unschuldig ist.«
Inger Johanne ließ sich auf dem Sofa zurücksinken. Die Kissen waren so weich, dass sie in dem großen weißen Nichts verschwand, ehe sie sich wieder hochkämpfen konnte.
»Niemand hat behauptet, dass er schuldig ist«, sagte sie und legte zum ersten Mal ein wenig Nachdruck in ihre Stimme. »Sie machen sich wirklich viel zu früh Sorgen.«
»Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste«, erklärte Helga Mohr. »Übernehmen Sie den Auftrag? Am Geld soll es nicht liegen.«
Dass Inger Johanne kurz auflachte, schien die alte Frau zu beleidigen. Sie kniff den Mund zusammen und hob ein wenig das Kinn.
»Ich will wirklich nicht unhöflich sein«, sagte Inger Johanne. »Aber erstens kann ich Ihnen nicht helfen, und wenn ich es könnte, würde ich natürlich
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